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Indische Erinnerungen an Anastasius Hartmann

Wer erinnert sich noch an einen Schweizer Bischof, der vor 50 Jahren gestorben ist? Bischöfe ergeht es wie andern Amtsträgern. Wenn ihr Nachfolger im Amt ist, spricht kaum jemand von ihnen. Umso erstaunlicher ist es, dass der Schweizer Kapuziner Anastasius Hartmann, der 1866 in Patna am Ganges starb, noch nicht vergessen ist. Wir waren in Indien auf der Suche nach seinen Spuren.

Abenteuerliche Fahrt

Im Morgengrauen verlassen wir die indische Hauptstadt Neu Delhi. Unser Ziel ist die Stadt Agra. Wir möchten zwar auch das Weltwunder Tadj Mahal besuchen, das Grabmal, das ein Gross-Mogul für seine 1631 verstorbene Frau errichten liess. Doch der Anlass unserer Reise ist die Kirche, in der Anastasius Hartmann 1846 zum Bischof geweiht wurde. Die 200 Kilometer lange Fahrt ist ein wildes Abenteuer. Die vierspurige Strasse gleicht einer Autobahn ohne Mittelstreifen. Doch es wimmelt hier von Fussgängern, Rikscha-Fahrern und Kühen. Wir begegnen auch Dutzenden von Kamelen, die schwere Wagen ziehen. Selbst schwarze Tanzbären und einige Affen sind zu sehen. Mit Ausnahme der Bären, die angebunden sind und den Affen, die artig am Strassenrand sitzen, bewegen sich alle mehr oder weniger unberechenbar auf den Fahrbahnen. Unser Fahrer muss sich dauernd durchschlängeln und rasante Ausweich-Manöver vollziehen – stets bei einer Schwindel erregenden Geschwindigkeit. Wir erinnern uns an den Abschnitt „Verwirrspiel Strassenverkehr“ unseres Polyglott-Reiseführers: „Überholen ist ein Muss. In das Nirvana gelangt man durch einen Totalzusammenstoss.“ Wenigstens alle fünf Minuten haben wir das Gefühl, ein entgegenkommendes Auto würde uns diesem Ziel näher bringen.

Schmetterlinge und Eichhörnchen

Agra ist eine moderne Grossstadt. Dennoch sind bei einer Fahrt durch das Zentrum wohl mehr Kühe zu sehen als auf einer Reise durch das Schweizer Mittelland. Der Gegensatz zwischen dem chaotischen Treiben auf den Strassen und der Stille im Kathedral-Bezirk könnte nicht grösser sein. Über den Blumenbeeten schweben Schmetterlinge. Ein gestreiftes Eichhörnchen versteckt sich in den gepflegten Rabatten. Neben der heutigen Kathedrale steht die – von Muslimen erbaute! – Kirche, in der Anastasius am 15. März 1846 zum Bischof geweiht wurde. Eine Gedenktafel erinnert an den Tag. Der Erzbischof von Agra erzählt uns beim Tee in seiner Wohnung, im Gebiet seiner Diözese lebten 25 Millionen Menschen, von denen bloss 1,046 Prozent katholisch seien.

Lucknow

Auf der Rückfahrt nach Delhi erleben wir auf den Strassen das gleiche lebensbedrohende Chaos wie am Morgen. Am Ende der Reise geraten wir mitten in den Stau. Die Abgase lassen uns kaum atmen. Zwei Tage später erreichen wir in 40-minütigen Flug Lucknow, die Hauptstadt des indischen Bundesstaates Uttar Pradesh (UP genannt). Der Staat hat ungefähr 21 mal so viele Einwohner wie die Schweiz, nämlich 150 Millionen. 1966 wurde in Lucknow der Bischof Hartmann Ashram gebaut, das Kloster, in dem eine Zeitlang alle jungen Kapuziner aus ganz Indien ausgebildet wurden. Der Provinzial erinnert sich dankbar daran, dass die hiesigen Brüder seit über 20 Jahren von der Schweizer Provinz grosszügig unterstützt werden.

Heilige Flüsse

Von Lucknow aus besuchen wir Allahabad, wo Bischof Anastasius begraben liegt. Hier sehen wir erstmals den heiligen Fluss Ganga (wie der Ganges heute genannt wird). Die Hindus glauben, dass nicht nur der aus Delhi kommende Yamuna, sondern auch der unsichtbare Fluss Saraswati in den Ganga mündet. An den Hindu-Wallfahrern vorbei erreichen wir das Ziel unserer Wallfahrt, das Grab von Bischof Hartmann. Unser Eindruck ist zwiespältig. Es ist für uns zwar ein erhabener Augenblick, das Grab eines Mitbruders zu besuchen, von dem wir schon so viel gehört hatten und der fast anderthalb Jahrhunderte nach seinem Tod auch in der fernen Schweiz von vielen verehrt wird. Doch wir sind enttäuscht, weil die Grabplatte mit der dreisprachigen Inschrift (Latein, Hindu und Englisch) praktisch unter den Kirchenbänken versteckt ist.

Bayerische Schwestern

Hinter der Grabeskirche haben wir eine herzliche Begegnung mit zwei Ordensfrauen aus Bayern. 1853 rief Bischof Anastasius einige Schwestern ihrer Gemeinschaft (Mary Ward Sisters) in seine Diözese. Sie seien damals im Hochsommer in Bombay angekommen, „in ihren dicken, schwarzen Kleidern“, erzählt uns die jüngste der beiden Schwestern, Elisabeth Steegmüller, die bereits 82-jährig ist. Ihre hier arbeitenden Mitschwestern sind Inderinnen. Sie führen eine Schule mit 2400 Schülern und Schülerinnen. Es sei schon vorgekommen, dass Beamte gedroht hätten, das Telefon oder den Strom abzustellen, wenn ihre Kinder nicht in die Schule aufgenommen würden, bemerkt Schwester Elisabeth.

Patna, Bihar

Abends auf dem Bahnhof von Lucknow: Auf den Perrons herrscht ein buntes, chaotisches Treiben. Eine weisse Kuh zeigt sich von allem unbeeindruckt. Sie spaziert ruhig und gelassen an den Leuten vorbei, die wie wir auf den Nachtzug nach Patna warten.
Von Benares (heute: Varanasi), der heiligsten Stadt der Hindus, bemerken wir nichts, da wir trotz den laut schwatzenden Mitpassagieren tief schlafen. Am Morgen in Patna angenommen, müssen wir uns an unzähligen zerlumpten Menschen vorbei schlängeln, die in der Bahnhofhalle liegen.

Patna ist die Hauptstadt des Bundesstaates Bihar, der als Wiege des Buddhismus eine grosse Vergangenheit hat und heute eine der ärmsten Regionen Indiens ist. Die Strasse, die zum heutigen Sitz des Bischofs und seiner Kathedrale führt, ist von Abfallhaufen umsäumt. Eine siebenköpfige Eselsfamilie weidet mitten im Dreck und verzerrt hie und da auch Papierfetzen.
Seit den Tagen des Anastasius Hartmann ist hier vieles gleich geblieben. Wenn Walbert Bühlmann die Ankunft des Bischofs beschreibt, trifft er damit weitgehend die heutige Wirklichkeit: „Menschen sitzend, liegend, essend, die Notdurft verrichtend, schwatzend, feilschend, Kinder mit schwarzen Augen und schwarzen Haaren, stets fröhlich trotz der Not des Lebens, heilige Kühe abgemagert und apathisch über den Weg gelagert“.

Bescheidener Nachfolger

Im Speisesaal des Bischofshauses fällt uns ein Portrait von Anastasius Hartmann auf, die Kopie eines Bildes des berühmten Nidwaldner Malers Melchior Paul von Deschwanden. Der heutige Erzbischof, Benedict Osta, ein Jesuit, ist ein herzensguter, äusserst bescheidener und ruhiger Mann. Sein einziger Stolz ist es, Nachfolger von Anastasius zu sein. Er erzählt uns, zur Diözese Patna habe bis 1986 auch Nepal gehört. Erzbischof Benedict nimmt sich sehr viel Zeit, um uns die Stadt zu zeigen. Er führt uns zur Anastasius Hartmann Memorial High School, die 1966 zum 100. Todestag seines berühmten Vorgängers errichtet wurde. Auch die Schule besteht noch, die Anastasius 1853 für die Mary Ward Schwestern gebaut hat. Wir hören noch von andern Schulen, die der initative Bischof ausserhalb der Stadt gegründet hat und die heute noch bestehen. Wir fahren zur alten Kathedrale. Als Bischof Hartmann hierher kam, war das Gebäude in miserablem Zustand. Das Dach war eingestürzt. Als Anastasius den Gräuel der Verwüstung sah, habe er geweint, wird überliefert.

Reliquien

Am Ort, wo der berühmte Bischof bis 1920 begraben lag (als die Kapuziner Patna verliessen, nahmen sie die Reliquien nach Allahabad mit), finden wir eine Gedenktafel. Es ist ein Herzenswunsch von Bischof Benedict, wenigstens einen Teil der sterblichen Überreste seines Vorgängers in Patna zu haben, zumal in Allahabad sein Grab sozusagen versteckt wird. Es ist geplant, vor oder in der Kirche eine Statue aufzustellen, um die Verehrung des grossen Schweizer Missionsbischofs zu fördern. Schon heute wird nach jeder Sonntagsmesse um seine Seligsprechung gebetet. Wir fahren zu einer Schule, die in Sichtweite des Ganga liegt. Hier wird uns das Zimmer gezeigt, in dem Bischof Hartmann gewohnt hat und in dem er am 24. April 1866 an den Folgen von Cholera gestorben ist. Bevor wir Patna verlassen, besuchen wir ein grosses Spital und eine Schule für Hörbehinderte, die beide von der Gemeinschaft der Ingenbohler Schwestern geführt werden. Bekanntlich wurde diese Kongregation wie jene von Menzingen von Theodosius Florentini gegründet, dem andern grossen Schweizer Kapuziner des 19. Jahrhunderts. Heute gibt es in Patna keine Schweizer Schwestern. Ihre einheimischen Mitschwestern nehmen uns mit grosser Herzlichkeit auf.

Junge Kapuziner

Szenenwechsel: Wir befinden uns rund 2000 Kilometer von Patna entfernt, in Mysore, Bundesstaat Karnataka. Die Kapuziner haben uns gebeten, zu einem Austausch in eine Schulstunde ihrer Theologiestudenten zu kommen. Wir sind gespannt, was die jungen indischen Kapuziner über Anastasius wissen. Als wir ihnen die entsprechende Frage stellen, weiss fast jeder etwas zu berichten. Aus dem lauten Stimmenwirrwarr hören wir zuerst „Ochsenkarren“ heraus (die monatelangen, äusserst beschwerlichen Reisen von Anastasius in diesem Gefährt beeindrucken bis heute). Die jungen Brüder wissen auch, dass Bestrebungen da sind, Anastasius Hartmann selig zu sprechen.

Im Gespräch mit den jungen Kapuzinern, die wir in Kerala und in Tamil Nadu antreffen, fragen wir ebenfalls nach unserem Landsmann. Immer treffen wir auf recht gut Informierte. Einige wissen, dass der berühmte „Examiner“, die bis heute in Bombay herauskommende katholische Zeitschrift, von Anastasius gegründet wurde. Bei unserem Zwischenhalt in Bombay erhalten wir ein Exemplar des in ganz Indien verbreiteten Blattes. (Aus zeitlichen Gründen konnten wir in Mumbai, wie die Stadt heute heisst, nicht weiteren Spuren nachgehen.)

Spenden aus der Schweiz

Auf unserer Spurensuche trafen wir täglich mehrmals wichtige Einrichtungen an, die auf den ersten Blick nicht mit dem Bischof des 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden: Schulen, Krankenstationen, Klöster, Waisenhäuser und andere Gebäude und Institutionen, die mit dem Geld aufgebaut wurden, die Verehrer und Verehrerinnen von Anastasius Hartmann zu seinem Gedenken spenden. Der „Diener Gottes“ (so sein offizieller kirchlicher Titel) sorgt offensichtlich über den Tod hinaus für „seine“ Kirche.

Walter Ludin

 

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Indien

ite 2000/3

Indien - doppelt belichtet
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