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Basisgemeinden in Amazonien

Während Jahrhunderten war es den Gläubigen verboten, die Bibel zu lesen. Und doch hat das Volk immer wieder aus dieser Quelle Kraft geschöpft. Wenn wir vom heutigen Umgang mit der Bibel sprechen, dürfen wir Gott mit den Worten Jesu preisen, dass „er sein Wort gerade den Kleinen und Geringen geoffenbart hat“.

Im Buch der Schöpfung

Schon immer hat es das Volk verstanden, im „Buch der Schöpfung“ zu lesen und Gott daraus zu vernehmen. Die Indios, die noch heute in kleinen Gruppen im Urwald leben, entdecken darin sein Wirken. Wenn man sie fragt, wer den Wald, die Tiere und die Pflanzen gemacht hat, zeigen sie stumm zum Himmel. Im Gegensatz zu früher hat heute auch das einfache Volk freien Zugang zur Bibel. Die offizielle kirchliche Unterweisung stützt sich direkt auf die Texte der Heiligen Schrift. Sogar ganz arme Leute und solche, um die niemand sich kümmert, haben das Bedürfnis, eine Bibel zu besitzen und das „Wort Gottes“ zu lesen. Fast alle Familien besitzen eine Bibel, zumindest eine Ausgabe des Neuen Testaments. An Regentagen, wenn man nicht draussen arbeiten kann, oder am Abend nach der Arbeit auf den Feldern lesen die Leute in der Bibel.

Den Glauben teilen

In vielen kirchlichen Basisgemeinden ist es seit Jahren eine grosse Selbstverständlichkeit, gemeinsam die Bibel zu lesen. Die Leute haben Freude daran, ihren Glauben miteinander zu teilen, vom Glauben der anderen zu hören und über den Glauben miteinander ins Gespräch zu kommen. Sie haben eine einfache, eigenständige Art, das Wort Gottes zu verstehen. Es gibt ihnen Trost. Gleichzeitig leitet es sie an, die Welt zu verändern. Gemeinsam kämpfen sie gegen das Böse. Ebenso setzen sie sich für Vergebung und Versöhnung ein. Diese Haltung prägt die Basisgemeinden, die Katechese in den Pfarreien und die verschiedenen Laiengruppierungen.

In Coca z.B. versammelt sich jeden Freitag eine Gruppe von Ärzten, Arbeitern, Ingenieuren, Bauern, Händlern usw., um gemeinsam in der Bibel zu lesen. Es geht dabei nicht nur darum, den biblischen Text zu kommentieren und begrifflich zu verstehen. Lesen der Bibel heisst für diese Menschen: das Wort Gottes beten, den Glauben miteinander teilen, den Alltag von der Bibel her verstehen und nach Ansätzen zur Veränderung der misslichen Verhältnisse zu suchen.

Gottes Wort macht frei

Die Kirche in Ecuador verfügt über eine Ausbildungsstätte für Katecheten und Animatoren von Basisgemeinden. In Kursen, die sich über fünf Jahre erstrecken, kommen die Leute regelmässig zusammen und lernen miteinander, auf Gottes Wort zu hören und mit ihm umzugehen. Ausgangspunkt ist die Situation der Menschen: Armut und Verelendung. In einem zweiten Schritt versucht man dann, die eigene Lebenssituation von der Bibel her zu verstehen und zu deuten. In einem dritten Schritt werden neue Impulse für die Bewältigung des Lebens gewonnen.

Und so kommt es dazu, dass Menschen, die in den Machtstrukturen der ecuadorianischen Bevölkerung nichts zu sagen haben, miteinander die befreiende Dimension ihres Glaubens erfahren. Einfache, unterdrückte Menschen entdecken die Gute Nachricht und werden selber für andere zur Guten Nachricht.

Buch der Hoffnung

Kann man glücklich leben und zufrieden sein, wenn man wie diese Menschen in einer Welt lebt, die geprägt ist von Korruption, Alleinherrschaft des Geldes, Missachtung der Würde der Menschen und Unterdrückung durch die Mächtigen? Es ist verständlich, wenn Menschen in solchen Situationen die Hoffnung aufgeben und desillusioniert sich auf sich selber zurückziehen. Woher nehmen sie aber die Kraft, weiterhin mit einem liebenden Herzen auf die Menschen zuzugehen und die Hoffnung nicht aufzugeben, dass wenigstens für die Kinder eine bessere Zukunft möglich wird? Es ist tatsächlich so: In dem, was Jesus gesagt hat und immer noch sagt, finden diese Menschen Hoffnung und Zuversicht.

„Verstehst du es?“

Ich erinnere mich an einen jungen Animator einer Basisgemeinde. Er las gerade in der Geheimen Offenbarung des Johannes. Ich fragte ihn, ob er auch verstehe, was er da lese. Der junge Mann musste zugeben, dass er eigentlich nicht begreife, was in diesem Buch geschrieben steht. „Aber warum liesest du in diesem Buch, wenn du doch nichts davon verstehst?“ Er gab die einmalige Antwort: „Ich weiss nicht, wie es mir ergeht; aber wenn ich in diesem Buch lese, finde ich Kraft und Zuversicht, weiterhin für ein besseres Leben zu kämpfen.“ Der junge Mann hatte verstanden, dass der Sieg Christi, von dem die Geheime Offenbarung spricht, ihm und den Menschen von heute gilt. Die Bibel ist für ihn ein Buch der Hoffnung geworden.

Jesus als Vorbild

Die Worte und Taten Jesu werden für diese Menschen zur Quelle der Kraft. Jesus gilt ihnen als Vorbild. Ihm eifern sie nach. Denn er hat in einer Welt gelebt, die der ihren nur zu ähnlich ist: Menschen am Rand, ausgebeutet durch ein ungerechtes System; Unterdrückung von Seiten der Behörden; eine reiche Oberschicht, die sich mit den ausbeuterischen ausländischen Grossunternehmen zusammentut und der am Elend ihrer Brüder und Schwestern wenig liegt. Jesus legt gleichsam stellvertretend für diese armen Menschen den Finger auf die Korruption der wirtschaftlichen und politischen Führungsschicht. Er ist es, der protestierend aufsteht gegen jedes Unrechtssystem, das die Würde der Menschen als Töchter und Söhne Gottes missachtet. Jesus ist die menschgewordene Option für das Leben. An ihn halten sich die Menschen.

Überschwängliche Gottesdienste

Den Basisgemeinden wird gelegentlich der Vorwurf gemacht, ihr Umgang mit der Bibel beschränke sich auf die Suche nach dem sozialen Befreiungspotential der Heiligen Schrift. Aber liegt es nicht nahe, dass der Alltag und der Gottesdienst von Menschen, die in einer permanenten Situation der Unterdrückung leben, von der befreienden Dimension des christlichen Glaubens bestimmt werden? Wir dürfen nicht übersehen: Die Basisgemeinden können durchaus auch Gottesdienste feiern. Überschwänglich, wie Europäer es kaum könnten, loben und preisen sie Gott und danken ihm für sein befreiendes Wirken.

Juan Pedro Bonvin
Übersetzung: Thomas Morus Huber

 

ite2002/04

Lateinamerika

ite 2002/4

Als Gast bei den Indios
Pachamama und _Apu Taytayku
Die Bibel der Unterdrückten