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Vom Glück, gestürzt zu sein

Auf dem Weg zur Arbeit bin ich gestürzt. Ich weiss nicht warum, aber in der Folge durfte ich nicht nur nicht arbeiten. Ich plagte mich auch mit ständigen Schmerzen herum trotz der starken Medikamente, die ich dagegen bekommen hatte. Jetzt sitze ich zu Hause, das Fenster ist offen. Es ist ein wunderschöner Herbsttag. Ich schaue hinaus und fühle mich so wohl wie seit langem nicht mehr. Was ist geschehen? Ich bin voll berufstätig. Ich arbeite als Betagtenbetreuerin in einem Pflegeheim zu 100 %. Vor ein paar Jahren ist mir diese Arbeit noch leichter gefallen. Jetzt bin ich 51 und ich bin oft so müde nach der Arbeit, dass ich nur noch eins möchte, schlafen und meine Ruhe haben. Einladungen nehme ich nur noch an, wenn ich am nächsten Tag frei habe. In meiner freien Zeit mache ich meinen Haushalt, gehe einkaufen und erledige all die Termine, die nicht Platz haben, während ich arbeite.

Ich funktioniere gut

Nein, ich beklage mich nicht. Meine Arbeit füllt mich aus, auch wenn ich am Abend häufig so ausgelaugt bin. Leben nicht die meisten von uns so wie ich? Ich bin so im Alltagstrott gefangen, dass ich gar nicht mehr merke, wie ich durchs Leben renne und dabei – so kommt es mir vor – vorbeirenne. Sicher, ich muss arbeiten, da ist die Miete zu bezahlen, die Stromrechnung, das Telephon, usw. Ich lese die Zeitung, ich schaue die Nachrichten im Fernsehen – schrecklich, die Bilder, kaum etwas Positives. Eine Zeit lang lese ich dann weder die Zeitung, noch schaue ich mir die Nachrichten im Fernsehen an. Ich fühle mich unwohl, verschreckt, hilflos. Gar nicht so weit weg kämpfen Menschen ums Überleben und auf der Pflegestation reklamiert eine Betagte, wieso die Butter mal wieder so hart sei. Ich gebe Auskunft, ich bin freundlich, auch dieses Leben will gelebt sein. Ich funktioniere gut, ich habe meinen Job gelernt, ich bin mit Herz und Seele dabei. Am Abend bin ich leer, müde; wer sorgt jetzt für mich? Ich lebe allein, also muss ich dies für mich selbst tun.

Aus der Bahn geworfen

Und dann kommt unerwartet dieser Sturz. Es wirft mich aus der Bahn. Gedanken kommen mir: Wie, wenn ich jetzt zu einem Pflegefall würde? Wer würde dann für mich sorgen? Wenn ich so krank würde, dass ich sterben müsste, jetzt. Ich sitze zu Hause und schaue aus dem Fenster. Es ist ein wunderschöner Herbsttag. Ein blauer Himmel, kleine, helle Federwölkchen ziehen darüber hin. Auf der Strasse spielen Licht und Schatten; leise bewegen sich die Birkenzweige im Wind, ein unaufhörliches Raunen und Rauschen. Ich sitze da und schaue all dem zu. Nein, ich nehme Anteil daran, ich bin mitten darin in diesem Himmel, diesem Rauschen in diesem Licht und Schatten. Ich tue sonst nichts, ich schaue nur, fühle nur, rieche nur. Und trotz diesem Wissen, diesen Bildern in mir von einstürzenden Häusern, sterbenden Menschen, trotz der Unzufriedenheit der Betagten wegen eines Stück Butters, das zu hart ist und trotz meiner Sorge, wie es morgen sein wird, ob ich weiterhin arbeiten kann, mich selbst versorgen – trotz all dem was in mir gegenwärtig ist – sitze ich hier und spüre einen grossen Frieden und die Dankbarkeit, dass ich jetzt und gerade da bin. Ich weiss, ich werde, wenn ich wieder arbeiten kann, in den gleichen Stress geraten. Ich werde wie in einer Tretmühle gefangen sein, die sich unablässig dreht und dreht. Muss erst wieder ein Sturz sein, der mich aus dieser Tretmühle hinauskatapultiert? Damit ich wieder festen Boden unter den Füssen bekomme, damit ich dastehen kann, dastehen bleiben kann und wieder spüre wie ich lebe.

Weg vom Alltagstrott

Aber wie mache ich das ? Das mit den guten Vorsätzen ist so eine Sache. Ich habe da, ehrlich gesagt, immer etwas Mühe. Nicht, dass ich mich nicht daran halten würde. Aber da gibt es immer wieder Wichtigeres, Dringenderes zu tun. Eine Frage der Disziplin also? Ich glaube schon. Die Frage ist doch, wie wichtig bin ich mir selbst? Ich bin so erzogen worden, dass immer zuerst die andern dran kommen. Ausserdem bin ich eine Frau. Ich habe früh gelernt, dass meine Rolle das Dienen ist. Nur so konnte ich mir Zuwendung und Freundlichkeit „erkaufen“. Es hat lange gebraucht, bis ich dahinter kam, dass ich nicht „muss“. Aber etwas von dieser Erziehung und jahrelang Gelebtem bleibt wohl immer erhalten. Wenn ich nicht aufpasse, gerate ich wieder hinein. Es fällt mir manchmal immer noch schwer „Nein“ zu sagen. Aber gerade dieses „Nein- sagen“, würde es bringen. Nein, zu dem Wichtigen, Dringenden – denn, ist es das wirklich? Nein, zu den Anforderungen von Freunden und Bekannten. Ich plädiere nicht für Egoismus, nein! – wirklich nicht. Nur für die Zeit mit mir, eine Zeit, die häufig stattfinden soll, eine Zeit, so wie jetzt, gerade heute. Wer sagt denn, dass es nicht immer wieder die Möglichkeit gibt, es neu zu versuchen, auch wenn es wieder schief geht? Es ist die wirkliche Chance, die wir haben, solange wir leben, wir können etwas ändern; nicht die ganze Welt, aber ein bisschen Alltagstrott.

Ruhe

In unserer schnelllebigen lauten Welt wird es zunehmend schwieriger, einen Ort der Ruhe und der Stille zu finden. Da klingelt das Telephon, der Fernseher oder das Radio plärrt; da ist der Lärm der Strasse, das Gedudel in den Geschäften. Wohin gehe ich dann? Manchmal in eine Kirche, nicht immer bete ich dann. Ich muss eine Zeit lang warten, bis ich mich auf diese Stille einlassen kann. Ich lasse meine Gedanken laufen, ich zwinge sie nicht still zu stehen. Aber wenn ich einen bestimmten Gegenstand ansehe, oder ein Bild, und dabei verweile, kommen meine davoneilenden Gedanken von selbst zur Ruhe. Ich habe auch das Glück in der Nähe eines Klostergartens zu wohnen, der für die Öffentlichkeit zu bestimmten Zeiten zugänglich ist. Ich setze mich dort gerne an den kleinen Teich und schaue den Fischen zu. Und da kommt es vor, dass ich ein Blatt aufhebe, es anschaue, befühle, berieche, ich lasse meine Finger darüber gleiten und ich kann nicht anders, ich erschrecke beinahe vor diesem Wunder, das dieses Blatt darstellt, und es ist doch „nur“ ein Blatt. Und in meinem Herzen geschieht etwas. Etwas nicht zu Beschreibendes. Ich stelle mir meine Seele vor wie ein grosser See in mir drin. Und in diesen See fällt dieses Blatt, fallen meine Gefühle, fällt wohl auch so etwas wie ein Gebet. Es sind nicht Worte, es ist ein Gefühl von Vertrauen, von Gehaltensein. Dass ich genau wie dieses Blatt ein Teil der Schöpfung bin; dass ich sein darf – nein, dass ich sogar sein soll. Verantwortlich, aufmerksam und liebevoll achtsam.

Die Tretmühle anhalten

Der Ort, wo ich solche Erlebnisse finde, kann auch ein paar Meter weiter in einer stillen Nebenstrasse sein. Es gibt ihn sicherlich – aber gehen – dorthin gehen – muss ich selbst. Ein bisschen Mut braucht es schon. Mut, die Tretmühle anzuhalten und zu schauen, was geschieht, was mit mir geschieht. Gott ist nicht nur da, wenn zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind. Er ist auch da, wenn ich mich ihm selbst stelle. Wenn ich still werde, Fenster und Türen, die Sinne aufmache und geschehen lasse, was geschieht. Dies ist auch etwas, was dazugehört. Ich muss es geschehen lassen, nicht wollen, nicht erzwingen.
Ein seltsamer Zustand ist das: losgelöst und doch ganz da. Und manchmal finde ich dort eine Antwort auf meine Fragen, wohl, weil ich nun endlich zuhöre.

Anke Maggauer-Kirsche

 

Schreibende Betagtenbetreuerin

Die Autorin, Anke Maggauer-Kirsche, Jahrgang 1948, in Franken aufgewachsen, arbeitet in einem Luzerner Pflegeheim als Betagtenbetreuerin. Im ite veröffentlichte sie in den letzten Jahren zahlreiche Gedichte und Aphorismen. Von ihr sind im Buchhandel erhältlich:

  • Geborgen in dir. Kleinschrift. Kanisius Verlag Freiburg/Schweiz
  • Ganz schön Rot geworden. Aphorismen. Brunner Verlag Kriens

 

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