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Schwester Lorena als Friedensstifterin © missio Aachen
Schwester Lorena als Friedensstifterin © missio Aachen

Schwester Lorena Jenal zu ihrer Arbeit auf Papua-Neuguinea – Preisträgerin des Weimarer Menschenrechtspreises.

Beat Baumgartner führte ein längeres Gespräch mit ihr. (auch in ite 2 und 3 verkürzt zu lesen)

Sr. Lorena, wie kommt es eigentlich, dass Sie vor bald 40 Jahren nach Papua-Neuguinea ausgereist sind?

Ich bin mit vier Geschwistern im bündnerischen Samnaun, in einem engen Gebirgstal, in sehr ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Etwa mit 15 wusste ich ganz genau: Ich muss aus dieser Enge raus! Da bot sich die Missionsarbeit an. Ich habe zwei gehörlose Brüder, die damals die Gehörlosenschule im luzernischen Hohenrain besuchten, darum war mir das Kloster Baldegg bekannt. Die franziskanische, offene Ausrichtung der Baldegger Schwestern beeindruckten mich sehr, ich schaute darum gar nicht mehr weiter. Denn schon damals waren für mich Fragen der Gerechtigkeit und des Friedens zentral. Ich kam bereits mit zwanzig nach Baldegg mit der klaren Idee: Ich will in die weite Welt.

Sie haben 1973 bei den Baldegger Schwestern die erste Profess gemacht, wurden dann als Erzieherin ausgebildet und sind 1979 nach Papua-Neuguinea im Pazifik ausgereist. Und dort geblieben bis heute …

Ja, bereits nach zwei Jahren auf Papua-Neuguinea wusste ich: Das ist das Land meiner Träume, die Aufgabe meines Lebens. Ich habe mich richtig in die Insel und ihre Menschen verliebt. Papua-Neuguinea war ja «missionarisches Neuland» für uns Schwestern. Zentral ist für mich bis heute die Haltung, immer auf die Menschen vor Ort zu hören. Denn nur sie wissen, was wirklich Not tut. Hier hat mich die Missionsphilosophie des II. Vatikanums stark geprägt. Mir geht es um die ganzheitliche Erfassung des Menschen, um die beiden Herzensqualitäten «Vertrauen und Einfühlungsvermögen», die ich meinem jeweiligen Gegenüber einnehme.

Meine Haupttätigkeit in der Diözese Mendi, die die südliche Hochlandprovinz und die Provinz Hela umfasst, ist bis heute die Arbeit mit Familien, mit Schwerpunkt auf Mutter und Kind. Das Land mit seinen zahlreichen Volksgruppen litt und leidet bis heute unter gewalttätigen, verfeindeten Sippen, Mütter und Kinder sind davon besonders betroffen.

Können Sie sich noch an Ihre ersten Eindrücke und Begegnungen im Hochland von Papua-Neuguinea erinnern? Sie schrieben 2013 in einem Beitrag in der Kapuziner-Zeitschrift ITE: «Ich reiste 1979 in die Steinzeit».

Das Wort «Steinzeit» würde ich heute so nicht mehr gebrauchen. Bis heute ist eine meiner prägendsten Erinnerungen die Begegnung mit dem Stammesführer Sia – er nennt sich wie ein tiefwurzelnder, einheimischer Baum. Ein kleiner, quirliger Mann mit strahlenden Augen, einer der eindrücklichsten Stammesführer, dem ich je begegnet bin. Ich war noch ziemlich neu auf der Insel, da kam er auf mich zu und sagte: «Du junge Schwester, du hast eine Aufgabe.» Sia drang darauf, dass ich ihn zur Taufe führe. Das war mein längstes, aber auch schönstes Katechumenat, sieben Jahre dauerte es. Wir hatten mit ihm dann eine wunderschöne Taufe im Fluss, den er heilig hielt. Und mit ihm wurden auch gleich 60 seiner Kinder und Enkel katholisch getauft sowie alle seine acht Frauen. Es war eine sogenannte Sippentaufe in seinem von ihm beherrschten Gebiet. Das Gebiet wird bis heute davon geprägt.

Acht Frauen? – Die Polygamie ist auf Papua-Neuguinea weitverbreitet?

Ja, die Frau gilt bis zum heutigen Tag nichts. Gemäß einem aktuellen UNO-Bericht, werden in der Provinz Eastern Highlands 80 Prozent der Frauen geschlagen.

Und in diesem Umfeld haben gerade patriarchal denkende Stammesführer Respekt vor ihnen, einer ledigen, ausländischen, weissen Ordensschwester?

Ja, weil ich sie nicht belehre, anklagen, erniedrige oder beschimpfe. Damit ich eine gute Beziehung zu diesen Führern, Stammesältesten, Ehemännern, usw. aufbauen kann, muss ich mit ihnen reden, ohne sie zu blamieren und blosszustellen. Sonst könnte ich auf der Insel gar nicht arbeiten. Gerade in aufgeheizten Situationen, wenn Gewalt droht, muss ich mit Fingerspitzengefühl vorgehen: Ich muss meinem Gesprächspartner das Gefühl geben, er sei jetzt unerhört wichtig und er führe das Gespräch.

… das heisst, Sie müssen diese Kultur sehr genau kennen …

Ja, und bewusst auf die Menschen eingehen und sich ja nicht vom Äusserlichen oder Vordergründigen beeindrucken lassen. Man muss die Tiefenschichten dieser Kultur und seiner Ureinwohner ergründen.

Die Ureinwohner des Hochlandes von Papua-Neuguinea sind erst nach dem zweiten Weltkrieg entdeckt worden. Dann wurde ab 1955 das Land von Rom zum Missionsgebiet der Kapuziner bestimmt. Warum kamen dann 1979 die Baldegger Schwestern auf die Insel?

Eine interessante Geschichte. Der deutsche Kapuzinerbischof Firmin Martin Schmidt, der von 1966 bis 1995 das Bistum Mendi führte, hat in Rom während der Konzilsjahre den Wunsch nach «guten Missionsschwestern» für seine Diözese geäussert. Da erhielt er die Antwort: «Frag doch in Baldegg nach!» Die Schweizer Kapuziner arbeiteten schon immer mit den franziskanisch orientierten Baldegger Schwestern zusammen. So hat das begonnen.

In Ihren Berichten aus dem Einsatz sprechen Sie viel von Rückschlägen und aussichtslosen Situationen, von einer Kultur der Vergeltung und Rache. Stimmt dieses Bild?

Gewalt hat diese Kultur schon immer geprägt, noch bevor die Kolonisatoren kamen. Das zeigt sich sehr stark in den Sippen- und Stammeskämpfen. Ich habe von Beginn weg immer wieder gewalttätige Situationen zwischen Clans, Sippen und Familien erlebt, aber auch zwischen Ehepaaren. Auch hier wird häufig sofort geschlagen. Und, vielleicht erstaunlich, nicht nur der Mann schlägt zu, hin und wieder auch die Frau. Bei solchen schlimmen Auseinandersetzungen kann sogar der Mann getötet werden.

Also eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt?

Ja, und darum verfolgen wir Baldegger Schwestern ganz klar den Weg der Gewaltlosigkeit und des Dialogs, die einzige Möglichkeit, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Dazu ein kleines Beispiel: Als ich vor etwa zwei Jahren von meinem Schweizer Heimaturlaub in meine Pfarrei zurückkam, kamen mir und meinem Begleiter, einem Pater, bei der Ankunft die beiden Führer Ben und Paul mit Waffen entgegen. Der Pater wollte sofort den Wagen wenden, aus Angst vor den bewaffneten Kriegern. Doch ich sagte: «Die kenne ich, mit denen müssen wir jetzt reden und diskutieren.» Ich senkte das Seitenfenster des Autos und sagte: «Hey Ben und Paul, kommt, wir müssen mit euch reden.» Doch der Pater hatte Angst, ich aber insistierte: «Das sind meine Freunde, mit denen müssen wir jetzt reden.» …

Und was passierte dann?

Interessanterweise legten sie zuerst ihre Waffen nieder, bevor sie sich näherten. Sie begrüssten mich nicht mit der Waffe in der Hand. Wichtig für mich ist etwas ganz Unscheinbares: Das Anreden beim Namen, die Vertrautheit der Stimme. Aber diese Kontaktaufnahme muss gegenseitig sein.

Der Pater meinte dann zu mir, das sei doch nicht Aufgabe einer Frau. «Hast du vergessen, dass ich Franziskanerin bin, ich will die Situation entschärfen?» – Am darauf folgenden Sonntag fragte ich den Pater: «Kannst du die Morgenmesse lesen? Ich muss Friedensverhandlungen durchführen.» Da erwiderte er: «Spinnst du. Das darfst du gar nicht.» – «Ich mache es einfach, denn ich kenne die Leute besser als du.»

Ich hatte gehört, dass eine Sippe eben einen Angriff plante. Innerhalb von zwei Monaten erreichten wir schliesslich, dass beide verfeindeten Sippen ihre Waffen abgaben. Vorher haben Politiker/innen, es war gerade die Zeit vor den letzten Wahlen, vergeblich versucht zu schlichten. Pastoren, die Polizei – alle versagten. Wir franziskanisch geprägten, am Evangelium ausgerichteten Schwestern kamen ohne Waffen, mit dem Grundsatz der absoluten Gewaltlosigkeit. Solche Gewaltlosigkeit braucht ein ganz konsequentes Verhalten und eine klare Vorstellung von den eigenen Zielen – und der Friede ist möglich.

Wie viele schwere Stammeskonflikte haben Sie in den letzten vierzig Jahren erlebt?

Insgesamt vier Konflikte, die zunehmend brutaler ausgetragen wurden. Dabei geht es meistens um Landstreitigkeiten, um politische Macht und Reichtum. Sehr wichtig sind auch die Kämpfe um Frauen: Um die Frage, wer eine Frau heiraten darf. Am Anfang kämpften sie mit Pfeil und Bogen, beim zweiten Konflikt kamen selber gebastelte Gewehre zum Einsatz, später dann moderne Waffen wie das Maschinengewehr M16, bekannt als Polizeiwaffe. Jetzt wird in Konflikten die modernste Kompasswaffe eingesetzt.

Wie würden Sie ihre Methode der Friedensschlichtung umschreiben?

Wenn man wirklich Frieden erreichen will, muss man als Mediator/in immer beide Seiten hören, man darf sich nicht für eine Seite stark machen. Das verstehen die Leute auf Papua-Neuguinea heute immer noch nicht. Wenn du nur kurz für eine Seite Partei ergreifst, hast du schon verloren.

Das ist sehr schwer …

Es ist die einzige richtige Methode. Ich muss total neutral bleiben, keine Vorurteile haben, dann bin ich frei. Ich bleibe für die Anliegen beider Seiten hellhörig und stosse dabei meistens auf die wirkliche Ursache des Problems.

Sie erhalten jetzt am 10. Dezember den Menschenrechtspreis für Ihr Engagement für Opfer von Hexenverfolgungen. Noch immer werden in 29 Ländern der Welt Frauen als Hexen verfolgt. Wie sieht die Situation auf Papua-Neuguinea aus?

Die ganze Hexenverfolgung hat mit einem Wahn zu tun. Es geht immer darum, einen Sündenbock zu finden. Ich illustriere das mit einem Beispiel vom vergangenen 28. Juni: Einer unserer Missionsschüler, der 13-jährige Aleidscha, war verschwunden. Er selbst und seine Mutter wie auch seine ganze Verwandtschaft sind Adventisten mit starkem Fokus auf den Sabbatglauben, der Vater ist konfessionslos. Jetzt ging die Gemeinschaft auf die Mutter, eigentlich eine starke und selbstbewusste Frau, los und warf ihr vor, das eigene Kind getötet zu haben. Sie sei eine Hexe. Man begann sie zu drangsalieren, man wollte sie verbrennen und sie wurde schon gefoltert, da schrie sie in ihrer Verzweiflung: «Nein, ich war es nicht, es war meine Tante.» Da holte man die Tante, die ebenfalls im Dorf lebte, und richtete sie übel zu, man folterte sie von zwei bis drei Uhr Nachts.

Wie erfuhren Sie von dieser Geschichte, Ihr Pfarreigebiet ist ja riesig?

Ich erhielt in der Nacht eine sehr verwirrende Nachricht: «Komme bitte Schwester Lorena, sie haben wieder zwei übel zugerichtet.» Ich wollte wissen, wo sie sind, doch die Dorfbewohner wollten es mir nicht sagen. Denn sie wussten, dass es falsch ist und dass ich es der Polizei melden würde. Ich ging dann zum einheimischen Pfarrer und sprach mit ihm das Vorgehen ab. Es ging darum, in der Pfarrei vorsichtig vorzugehen und die richtigen Leute zu fragen. Zufällig trafen wir zuerst einen Katecheten, der behauptete: «Hexenverfolgung gibt es in unserer Pfarrei nicht.» Wir merkten, dass er uns anlog. Dann begegneten wir einer alten Frau, die uns tatsächlich verriet, dass und wo das Verbrechen passiert ist. Wir fuhren zur besagten Siedlung und parkten den Wagen. Zwanzig Dorfbewohner folgten uns, verschwanden dann wieder, weil sie dachten, wir würden nur eine Familie besuchen und seien total harmlos. Mir fielen beim Gehen zwei Kinder auf, die sich immer wieder hinter Hütten versteckten. Plötzlich kamen diese auf uns zu und flüsterten: «Gell, du kommst wegen den beiden Frauen, wir zeigen dir, wo sie sind.» – Es war sehr eindrücklich, wir liefen durch dichtes Unterholz. Die Kinder sagten uns genau, wo man die Frauen findet. Wir fanden zuerst die Mutter, sie war nicht so übel zugerichtet, aber die Tante war in erbärmlichem Zustand. Ich liess sie ins Hauptspital bringen und die Mutter kam zu uns eine Woche auf die Missionsstation. Das war nicht ganz einfach, denn die Adventisten sind gar nicht gut auf uns Katholiken zu sprechen, wir sind für sie eine Bedrohung.

Was passierte dann?

Ich sagte zur Mutter: «Du glaubst doch auch an Gott, wie ich, vielleicht etwas auf andere Weise. Jetzt machen wir doch zusammen eine Übung, um herauszufinden, ist das Kind am Leben oder gestorben.» Dann erzählte mir die Mutter eine Fantasiegeschichte: Sie habe gesehen, wie eine Kobra das Kind verschlungen habe. Mir war sofort klar, dass sich diese Frau in ihrem Schock und im Kampf ums Überleben in eine Wahnwelt geflüchtet hatte. Ich wusste auch, ich muss die Frau ernst nehmen und sie davon überzeugen, dass ihr Kind am Leben ist. – Und tatsächlich, wie es die Vorsehung wollte, nach vier Wochen bringt tatsächlich der Vater das Kind zu mir und ich es zur Mutter zurück.

Eigentlich ist das der erste Fall von vielen, wo ich wirklich beweisen kann, dass es sich um ein klassisches Sündenbockphänomen handelt. Es ging nicht darum, herauszufinden, warum der Bube wirklich verschwunden ist, man wollte einfach einen Schuldigen finden. Und darum herum entwickelte sich eine Fantasiegeschichte mit der Kobra und Zauberei.

Es gibt quasi ein Muster, nach dem solche Hexenverfolgungen ablaufen?

Ja, und es hat immer mit einer grossen wirtschaftlichen, familiären oder sozialen Not zu tun, für die man ein Opfer sucht. Der betroffene Vater war in grosser Not, als guter Angestellter verlor er plötzlich seinen Job und hatte nicht mehr genug Geld für seine Familie. Sie konnten nicht mehr genug Schweine kaufen, um die erste Tochter zu verheiraten, usw. …

… und dann sucht man einen Schuldigen …  

Ja, ein böser Geist ergreift Besitz von der Frau und diesen kann man nur durch Feuer austreiben. Die reinigende Kraft des Feuers ist in diesem archaischen Denken enorm wichtig. Darum die Folterungen und Tötungen von Hexen durch Verbrennungen. Ich kritisiere deshalb auch die evangelikalen Kirchen auf Papua-Neuguinea. Sie bedrohen und ängstigen ihre Gläubigen geradezu mit diesen Drohungen vom ewigen Höllenfeuer. Sie machen unsere Bestrebungen, das Evangelium als frohe Botschaft, als Fülle des Lebens zu vermitteln, total kaputt.

Hexenverfolgungen nehmen auf der Insel an Zahl zu und erhielten offenbar in den letzten sechs Jahren eine neue Dimension durch die Anwendung sexueller Gewalt?

Das ist eine ganz neue Entwicklung und hat vor allem mit der allgegenwärtigen Pornographie zu tun. Denn die digitale Welt hat auch auf Papua-Neuguinea Einzug gehalten. Ein Smartphone hat dort heute jeder, auch wenn er sonst nichts besitzt. Täglich werden die Menschen dort, vom Jugendlichen bis zum Ältesten, mit Bildern und Videos überschüttet: Von Kriegen, islamistischen Gräueltaten bis hin zu Pornos aller Art.

So kommt es, dass die als Hexen verfolgten Frauen heute auch sexuell erniedrigt werden. Sie werden nackt ausgezogen und an den Händen aufgehängt, es werden ihnen die Brüste verbrannt usw. In der Kultur von Papua-Neuguinea war früher undenkbar, eine Frau nackt blosszustellen. Dann werden solche Folterungen auch per Handy aufgenommen und meiner Meinung nach von einer einheimischen «Mafia» teuer weiterverkauft.

Was passiert mit solchen verfolgten Hexen nach ihrer Rettung?

Ich nenne das Beispiel von Margret. Sie wurde für den Tod einer anderen Frau verantwortlich gemacht, vor einer tobenden Menge nackt ausgezogen und gefoltert mit glühendem Metall. Sie sagte mir nach ihrer Rettung: «Ich gehe nie mehr in das Dorf zurück, weil sie mich nackt ausgezogen haben.» Das ist für diese Frauen die grösste Art von Entwürdigung, sie fühlten sich schutzlos und total ausgeliefert.

Stimmt es, dass Sie besagten Fall vor Gericht brachten?

Ja, wir brachten den Fall vor das Dorfgericht von Pomberl und Margret wurde ein Schmerzensgeld bezahlt. Wir konnten stich- und hiebfest beweisen, dass die andere Frau wegen Blutverlust in der elften Schwangerschaftswoche gestorben war. Ich machte damals etwas, was ich nur ganz selten tue: Ich drohte, den unmenschlichen und unwürdigen Fall von Hexenverfolgung der Polizei mitzuteilen, wenn man Margret nicht ein Schmerzensgeld bezahle und die Sippe sich bei ihr entschuldige. Das geschah denn auch vor dem Dorfgericht. Denn alle anderen Gerichte auf Papua-Neuguinea funktionieren heute praktisch nicht. Sie sind viel zu teuer für die einfachen Leute. Mit Margret leite ich übrigens heute ein tolles Mikrobanking-Projekt. Sie kann damit ihre Existenz sichern.

Sie arbeiten in einem sehr angespannten Umfeld, bereits einmal mussten sie von 2002 bis 2005 die Insel verlassen. Was passierte damals?

Es ging um einen Mann namens Stony, der sich politisch betätigte, aber auch viel trank. Er ist übrigens auch heute noch – trotz allem – ein guter Freund von mir. Er war einmal an einem Samstag dermassen betrunken, dass er mit seiner modernen Waffe wild um sich schoss und die Kinder nicht mehr spielen konnten. Ich nahm ihm nach längerer Diskussion die Waffe weg und schloss sie ein. Das gab ein Riesenaufruhr, politische Gruppierungen wollten, dass ich für sie politische Verhandlungen durchführe, also Partei ergreife. Ich aber konnte mir das nicht leisten und verliess das Land. Nach den Wahlen beruhigte sich alles wieder. Bischof und Pfarreiangehörige wollten mich zurückhaben. Und so kehrte ich 2005 nach Papua-Neuguinea zurück, denn die Arbeit dort ist meine Lebensaufgabe.

Vor kurzem wurden Sie erneut bedroht?

Ja, letztes Jahr von einem hochrangigen Polizisten. Und am 10. November dieses Jahres, vier Tage vor meinem Flug in den Heimaturlaub, wollte mich ein Dorfbewohner mit einer Pistole töten, nachdem es einen Tag zuvor, am 9. November, zu einer versuchten Hexenverbrennung gekommen war. Zwei Frauen waren damals angeklagt wegen Hexerei. Allerdings riefen die Leute mich schon am nächsten Tag an und baten mich, zurückzukommen. Sie wollten mit mir reden, damit ich die betroffene Frau in Sicherheit bringe, nur ich könne das bewerkstelligen. Zum Glück war gerade ein Schweizer Arzt mit viel Kriegserfahrung vor Ort. Er konnte die Frau medizinisch versorgen, aber er war total schockiert von dem, was er angetroffen hatte.

Die Situation eskaliert offenbar generell in letzter Zeit …

Sie hat sich enorm verschärft. Man muss sich vorstellen, seitdem ich im November 2017 im Heimaturlaub war, haben sich in der Diözese Mendi siebzehn Fälle von Hexenverfolgungen ereignet (Stand November 2018, die Red.). Seitdem habe ich schon 44 Fälle von Hexenverfolgungen und -verbrennungen erlebt, diese Opfer betreue und begleite ich immer noch. Und ausserhalb dieser 44 Fälle konnte unser gut ausgebildetes Team in den letzten drei Monaten sechs Frauen in Sicherheit bringen, bevor ihnen was passiert ist. Sonst wären es 50 Fälle von Hexenverfolgungen. Ich will damit nur illustrieren, wie in den letzten paar Monaten die Hexenverfolgungen wahnsinnig zugenommen haben.

Seit 2013 gibt es ein Gesetz, dass Misshandlungen von Frauen grundsätzlich unter Strafe stellt. Hat sich am passiven Verhalten der Behörden also nichts verändert?

Nein, eigentlich nichts. Ich nenne nochmals das Beispiel vom 9. November. Ich war unterwegs mit einem Pastoralteam von zwei einheimischen Priestern, um Bewusstseinsarbeit zu machen. Wir fuhren zur Polizeistation, als wir von den Folterungen hörten. Ich wollte aussteigen, da sagte einer der anwesenden Polizisten: «Gut, Schwester Lorena, dass du hier bist, wir brauchen dich. Kannst du zwei Frauen holen, die sie letzte Nacht gefoltert haben.» Ich antwortete: «Ja, mit dem Polizeiauto und eurer Hilfe. Jetzt müsst ihr Farbe bekennen.» Da antwortete der Polizist: «Nein, auf keinen Fall, das kannst nur du mit deinem Auto machen. Wir Polizisten können das nicht.» Niemand, weder die Polizei, noch die Priester begleiteten mich, eine einheimische Schwester half mir schliesslich.

Haben Sie in Ihrer Arbeit nie Angst gehabt?

Ich habe sehr viele Verhandlungen bei gewalttätigen Sippenkämpfen geleitet und dies immer bewusst gewaltlos. Ich war und bin drum überzeugt, dass mir nichts passieren kann. Es gibt schon Momente, wo ich echt Angst habe, etwa bei der vorher erwähnten Bedrohung durch den hochrangigen Polizisten. Ich begegnete ihm im Polizei-Innenhof, er war bewaffnet. Aber ich weiss bis heute nicht, ob er schon früh am Morgen angetrunken war. Ich weiss nur, dass ich ihn bei einer Bestechung erwischte und ihn anprangerte. Und darum ist er ausgerastet. Da habe ich innerlich gezittert, aber äusserlich blieb ich ganz ruhig. Ich sagte dem Polizisten damals: «Ich weiss, dass du als hochrangiger Polizist mich sogar töten kannst. Aber etwas kannst du nie, meinen Geist töten. Wehe, du tust mir was an! Dann kommt mein Geist deinen Geist quälen.» Ich vergesse jenen Moment nie: Meine Worte trafen ihn wie Feuer. Und ich wurde völlig ruhig.

Sie haben vorhin erwähnt, dass als Hexen gebrandmarkte Frauen oft nicht mehr nach Hause gehen können. Ist das mit ein Grund, dass Sie ein Zufluchtshaus für Frauen planen?

Ja, ich bin am Aufbau eines solchen Zufluchtsortes. Das Haus liegt ausserhalb der Hochland-Provinz Hela, um die bedrohten Frauen aus dem Schussfeld zu nehmen. Im Haus hat während meiner Abwesenheit bereits eine bedrohte Frau Schutz gefunden. Es handelt sich hier um einen ganz schlimmen Fall von Hexenverfolgung. Es ist ein Wunder, dass diese Frau noch am Leben ist. Ein guter polnischer Freund von mir ist in jener Gegend Chefarzt eines Spitals. Er hat besagter Frau bereits fünf Hauttransplantationen gemacht.

Die körperlichen Wunden sind das eine, die seelischen das andere …

Und darum brauchen wir Orte, wo solche verfolgten Frauen sich erholen und angstfrei leben können. Denn die Wunden solcher traumatischen Erlebnisse heilen nie ganz. Es gibt noch einen weiteren Grund, warum ich mich für diese Frauen einsetze. Nicht nur sie, sondern ihre ganze Familie und die Kinder sind traumatisch davon betroffen, ja sogar ihre ganze Sippe. Wenn solche schlimmen Ereignisse nicht gut verarbeitet werden, können sie noch die nächste Generation belasten. Und dann äussern sich diese unverarbeiteten und verdrängten Erlebnisse in einem unerwarteten Moment wieder «explosionsartig» und lösen erneut eine verheerende Situation aus.

Was bedeutet der Preis der Stadt Weimar für Sie?

Der Preis ist vor allem die Wertschätzung unserer Gemeinschaft. Darum freut es mich, dass mich Sr. Nadia und Generaloberin Sr. Zita von der Generalleitung der Baldegger Schwestern zur Preisverleihung am 10. Dezember begleiten. Sie zeigen damit, dass Fragen der Gerechtigkeit, Würde und Gleichberechtigung der Frau ein Anliegen unserer ganzen Gemeinschaft waren und sind. Für unsere Arbeit ist die Gerechtigkeitsfrage zentral.

Diese internationale Publizität um Ihre Arbeit ist ebenfalls wichtig für die Verbesserung der Situation der Frauen in zahlreichen Ländern?

Ja, denn es ist bekannt, dass immer noch in 29 Ländern weltweit Hexenverfolgungen stattfinden. Manchmal dünkt mich auch, dass das enorme Mobbing via soziale Plattformen, unter dem etwa auch in der Schweiz zahlreiche Jugendliche leiden, auch eine Art «Hexenverfolgung» ist, die zu grossen seelischen Verletzungen, ja sogar zu Selbstmord führen kann. Das ist nur ein anderer Name für das gleiche Phänomen. Diese ganze digitale Schwemme von Infos, die auf die Menschen losgeht, hat sehr viele negative Effekte. Es ist schon verrückt: Ich arbeite jetzt 40 Jahre in Papua-Neuguinea. In dieser kurzen Zeit wurden die Menschen dort von der Urzeit in das Computer- und Smartphone-Zeitalter gestossen. Wenn schon viele Menschen in Europa von dieser rasanten Entwicklung überfordert sind, wie erst dann die Bewohner von Papua-Neuguinea?

Sie haben schon verschiedentlich erwähnt, dass auch die katholische Kirche in Papua-Neuguinea Fehler gemacht hat.

Auch die Kirche ist menschlich, und zum Menschsein gehört es eben, Fehler zu machen. Eine Kirche ohne Fehler ist keine Kirche, denn damit verleugnet sie die Menschwerdung Gottes, eine zentrale Botschaft des Christentums. Wichtig ist einfach, sich die eigenen Fehler einzugestehen und aus ihnen zu lernen. Ich möchte auch am Ende meines Lebens sagen können: Ich habe versucht, aus meinen Fehlern zu lernen, etwas Besseres zu machen und etwas zu bewegen.

Wie stark hat eigentlich die katholische Kirche in Papua-Neuguinea versucht, sich zu inkulturieren?

Inkulturation ist für uns Schwestern bis zum heutigen Tag ein ganz grosses Anliegen. Ich möchte das am Beispiel der Trauerverarbeitung illustrieren: Wenn ich in Papua-Neuguinea einen Konflikt erlebe, frage ich mich sofort: Ist hier eventuell die Kultur der Trauer, des Loslassens und Beerdigens und des Aufarbeitens übergangen worden? Darum gehe ich, wenn jemand stirbt, immer sofort in das Haus der Trauergemeinde. Ich will vermeiden, dass ein solcher Todesfall den Keim für einen neuen Konflikt in sich birgt, z.B. etwa indem jemand aus einer anderen Sippe für den Tod schuldig gemacht wird. Gerade aus solchen Trauersituationen heraus konnten wir in letzter Zeit sechs Frauen, mögliche Opfer einer Hexenverfolgung, schon früh in Sicherheit bringen.

Die Baldegger Schwestern sind, wie viele andere katholische Orden, als Gemeinschaft überaltert. Wie sieht es in Papua-Neuguinea aus?

Wir haben dort 28 junge Schwestern, die meisten haben bereits die ewigen Gelübde gemacht. Das ist unsere Hoffnung für die Zukunft. Ich denke, wir werden neue Formen des Ordenslebens entwickeln müssen. Diese gehen ganz fest in die Richtung «Gerechtigkeit und Würde für alle, Fülle des Lebens» usw. Und darum handeln wir im echten Sinne christlich, wenn wir zu den Ärmsten gehen, zu denen in neuster Zeit eben auch die als Hexen verfolgten Frauen gehören, aber auch zu Aidskranken und Drogensüchtigen. Schliesslich gehört auch die Bewahrung der Schöpfung und der Schutz der Umwelt dazu. All das sind seit jeher ur-franziskanische Themen. Es gibt ja unzählige Organisationen heute weltweit, die sich für solche Themen engagieren. Hier gilt es auch für uns, sich so weit wie möglich mit diesen Organisationen zu vernetzen und die individuelle Sicht der eigenen Tätigkeit hinter sich zu lassen. Wir müssen mit allen modernen Kommunikationsmitteln, mit Hilfe neuer psychologischer Kenntnisse, arbeiten und uns weiterentwickeln.

Und Sie möchten auch weiterhin auf Papua-Neuguinea tätig sein?

Selbstverständlich, ich denke nicht im Traum daran, in die Schweiz zurückzukehren! (lacht) Ich habe vor allem noch das wichtige, bereits erwähnte, Projekt eines Hauses für Frauen vor mir. Ich nenne es bewusst nicht «Zufluchtshaus» sondern «Haus der Freiheit». Es ist für mich eine grosse Befriedigung, wenn Frauen zu mir kommen und sagen: «Wegen dir kann ich wieder leben, aufatmen.» Das ist wunderbar. Und das ist eine Aufgabe für mich und unsere Gemeinschaft auch in Zukunft. Darum ist der Menschenrechts-Preis nicht für mich gedacht, sondern für all die starken Frauen in Papua-Neuguinea, die Schmerz, Not, Einsamkeit und Folter überstanden haben, weil sie an die Fülle des Lebens und die Freiheit glauben, auch in all dem Chaos und dem Schrecklichen.


Sr. Lorena und Papua-Neuguinea

Am 10. Dezember 2018 erhielt die Baldegger Schwester Lorena Jenal für ihren Einsatz für die Opfer von Hexenverfolgungen in Papua-Neuguinea den Weimarer Menschenrechtspreis 2018. «Mit Rettungsprogrammen, Aufklärungsmassnahmen und ihrem mutigen Einsatz kämpft sie unermüdlich gegen Menschenrechtsverletzungen» auf der Insel, schreibt die Stadt Weimar. Weiter


Weitere Infos zur Arbeit von Sr. Lorena Jenal finden Sie hier