Nachdem Jean-Charles Mouttet, der Verantwortliche von Rencar, von Beruf geistlicher Begleiter, sich mehrere Jahre im Bereich von psychischen Erkrankungen, von Suchtverhalten und Einschränkungen für die Freiheit  einer Person eingesetzt hatte, fühlte er sich gedrängt, einen Raum für Begegnungen zu schaffen, der allen zugänglich ist, nahe den entsprechenden Institutionen und zugleich für die Leute im öffentlichen Raum leicht erreichbar.

Der Rencar war eine Frucht längeren Nachdenkens und einer Vertiefung in Theologie, Pastoral und therapeutische Verfahren. All dies floss in die Bachelor-Arbeit ein, die Jean-Charles Mouttet im Juni 2011 an der theologischen Fakultät Fribourg einreichte.

Geistliche Begleitung für alle

Verschiedene Institutionen sind von den Ursprüngen her mit dem Rencar verbunden, gleichwohl soll jedermann und jedefrau von einer Unterstützung oder einer geistlichen Begleitung profitieren können. Der Rencar ist ein Ort, wo man ohne Vorbedingungen zuhört und sich vom Atem des Evangeliums inspirieren lässt. Es geht aber nicht um direktes, ausdrückliches Evangelisieren betont Jean Jacques Theurillat, Bischofsvikar.

Wie schon Jesus Galiläa und Judäa durchwanderte und aufmerksam auf das Unglück der Menschen einging, genau so bewegt sich der Rencar nahe bei den Menschen von heute. Ihnen wird im Namen der christlichen Hoffnung besondere Aufmerksamkeit geschenkt.

Leben ist nicht immer einfach

Schwierige Lebenssituationen gibt es zu Hauf. Der Rencar ist bereit, sich auf alle Situationen einzulassen, auch wenn er nicht beansprucht, alle Probleme lösen zu können. Bei einem ersten Gespräch können die Menschen ihre persönliche Lebensgeschichte erzählen; die professionellen und die freiwilligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehen mit tiefem Respekt auf ihre Gesprächspartner ein. Sie verfügen über das nötige Fachwissen, um die verschiedenen Problemsituationen einordnen zu können und die Ratsuchenden an die zuständigen sozialen und therapeutischen Einrichtungen weiterzuleiten. Gute Nachrichten sind immer willkommen.

Der Rencar bietet seine Hilfe gratis an. Man kann vorbeigehen und über seine Situation reden. Man kann die Dienste von Rencar immer wieder in Anspruch nehmen, so oft man will, denn Rencar ist ein Ort, der Schutz bietet und aufatmen lässt.

Ein Ort, der unterwegs ist

Finanziert wird der Rencar von der katholischen Kirche des Jura. Für sie ist der Rencar zeichenhafte Präsenz Gottes in unserer Welt, zeichenhaft für einen Gott, der sein Leben für alle hingegeben hat. Der Kirche des Juras geht es nicht um Bekehrungen zum Glauben; sie setzt ihr Vertrauen auf ein Netz von Menschen, die hören und zuhören können. Mit dem Angebot von Rencar öffnet sie sich für ganz unterschiedliche Menschen.

Das Besondere liegt darin, dass in der Begleitung Spiritualität und Religiosität der Menschen einen wichtigen Platz einnehmen. So wird der Rencar oft zu einem Ort des Gebetes, wo Gott alle Hoffnungslosigkeit übergeben werden darf. Auf diese Weise finden Menschen zu sich selber.

Ein Vorteil des Rencar liegt darin, dass er auf die Menschen zugeht und ihnen begegnen will, sei das nun in den jurassischen Städten wie Delémont, Moutier, Porrentruy und St-Imier oder auch auf dem Land, in den Freibergen.

Hilfe, Übergänge zu gestalten

In einer existentiellen Krise kommt es darauf an, die Spiritualität des Anderen ernst zu nehmen. Psychische Erkrankungen führen den Betroffenen in die Isolation. Psychisch kranke Menschen leiden oft unter der Missachtung von Seiten der Gesunden. Dabei wünschen doch viele nichts anderes, als dass sie in ihrer menschlichen Würde anerkannt werden. Heutzutage räumen viele Therapeuten der Spiritualität einen wichtigen Platz im Heilungsprozess ein. In dieser Perspektive versteht sich der Rencar als Verlängerung der klinischen Massnahmen. Er gibt dem Patienten, seiner Umgebung und den Pflegenden die Chance, die spirituelle Dimension neu zu entdecken.

Menschen, die unter Abhängigkeiten leiden, suchen oft in ihrer Tiefe Sinn und Hoffnung. Die spirituelle Begleitung trägt dazu bei, die inneren Quellen wieder sprudeln zu lassen. Nahe bei den Orten, wo solche Menschen festgehalten sind, oder auch während der Besuchszeiten der Angehörigen ist der Rencar für sie bereit und gibt ihnen in diesen Augenblicken der Schwäche Stütze und Halt.

Ökumenische Gemeinschaft

Der Rencar begann mit der Reflexion eines Einzelnen, aber bald entstand eine ökumenische Gemeinschaft von Begleitenden. Jean-Charles Mouttet ist nun von einem Leitungsteam umgeben, das sich zusammensetzt aus Isabelle Wermelinger und der Ordensschwester Ancilla Anderrüthi. Noch vor dem Start von Rencar hatten sich gut zehn freiwillige Chauffeure und ein Dutzend Begleiter und Begleiterinnen zusammengetan und waren bereit, sich für den Rencar zur Verfügung zu stellen.

Hinzu kommen ein gutes Dutzend Pfarreimitarbeiterinnen und -mitarbeiter; auch sie wollen sich auf das Abenteuer einlassen. Sie kommen sowohl aus der römisch-katholischen wie der evangelischen Kirche. In kaum zwei Jahren hat Rencar sich als eigener Dienst der Seelsorge etabliert; es sind fast vierzig Begleiter und Begleiterinnen, die sich engagieren.

Man mag im Augenblick den Eindruck haben, Rencar hätte die Grenzen seiner Möglichkeiten erreicht. Aber es gibt immer noch Freiwillige, die sich melden, um bei Rencar eine «Schnupperlehre» zu machen, weil sie sich darüber klar werden möchten, dass dieser Dienst etwas ist, das zu ihnen passt. Wenn die Leser und Leserinnen Kontakt aufnehmen möchten, dann können Sie dies über http://www.rencar.ch / info@rencar.ch / +41 79 775 33 88 tun.

Nadine Crausaz

Übersetzung: Thomas Morus Huber


Rencar zirkuliert auf den Strassen des Kantons Jura und im Berner Jura. Er versteht sich als ein Strohhalm der Hoffnung für jeden, der sich aussprechen möchte, der eine Zeit des Aufatmens braucht, der seine Vorstellungen hinterfragt, Hilfe braucht, Solidarität sucht, sich selber in Frage stellt oder ganz einfach glauben und hoffen möchte. Der Raum für Gespräche unterwegs ist etwas ganz Neues, er ist allen zugänglich. Er versteht sich als ein Ort, «wo das Verlangen nach Leben und Lebendigkeit sich am Blick des anderen entzündet».


Jean-Charles Mouttet ist der Verantwortliche vom Rencar. Er wurde im Jahr 2011 zum ständigen Diakon geweiht. Als spiritueller Begleiter und als Seelsorger in psychiatrischen Kliniken, in Entziehungshäusern und Gefängnissen ist er einer der ersten Absolventen des Westschweizerischen Instituts für die Ausbildung von Laien im Dienst der Kirche. Das Institut besteht seit 1991. Jean-Charles ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Er lebt in Alle (Jura).

«Der Weg ist das Ziel», sagen Pilgernde heute oft und gern. Stimmt dieses Motto? Gewiss bereitet es Freude, unterwegs zu sein, wenn der Weg schön ist und die Weggemeinschaft trägt. Jeder Pilgertag fordert und erfüllt mit seiner Wegstrecke. Dennoch liegt das Ziel nicht einfach im Unterwegssein. Pilgerwege sind immer auf ein Ziel ausgerichtet.

Besuch am Apostelgrab

Compostela, das «Sternenfeld» in Galizien, ist seit 1200 Jahren Zielpunkt für ein Netz von Wegen, die aus ganz Europa an das vermeintliche Grab des Apostels Jakobus führen. Um dieses ferne Ziel zu erreichen, haben sich Generationen von Pilgern für Monate aus Berufs- und Familienleben gelöst, Abenteuer und Gefahren auf sich genommen, unterwegs eine Schicksalsgemeinschaft geschlossen und Strapazen ausgehalten. Ohne das ersehnte Ziel hätte die Kraft unterwegs nachgelassen und der Mut zum Durchhalten gefehlt.

Ein zielloser Weg würde als Ziel nie ausreichen – und tut es auch für jene «Vagabunden» nicht, die Zygmunt Bauman von Pilgernden unterscheidet: «Menschen, die unterwegs sind, ohne zu wissen, wo sie landen werden, ankommen können und neu Fuss fassen im Leben. Auch für Entwurzelte, Flüchtlinge und Migrierende aller Art ist der Weg nicht das Ziel, sondern Schicksal und Zumutung, und vom ungewissen Ziel sprechen ihre Sehnsucht und ihre Träume.»

Ein Weg nach Innen

Franz von Assisi kennt verschiedene Arten des Unterwegsseins. Als junger Kaufmann reist er mit seinem Vater nach Frankreich, um modische Stoffe zu kaufen. Die Geschäftsreisen weiten seine Horizonte. Fasziniert von der Kultur der Provence, lernt er die Sprache und Poesie der Troubadours lieben. Ziel solcher Reisen sind Geschäfte, und für die Mühen entschädigen Vergnügungen, die sich reiche Kaufleute leisten können, heutigen Luxustouristen vergleichbar.

Religiös motiviert sind Wallfahrten, die von Assisi nach Rom führen. Allerdings garantiert keine Wallfahrt echte Gotteserfahrung, wie Franz später bekennt: Er hätte in all diesen Jahren gelebt, als ob es Gott nicht gäbe. Ritterträume lassen den jungen Modefachmann mit zwanzig auf einen Kriegszug gegen die Nachbarschaft Perugia ziehen, der prompt zum Debakel wird. Ein ehrgeizig begonnener Weg stürzt in den Abgrund und endet im Kerker. Erst nach zwei Jahren wieder hergestellt, erweist sich ein zweites militärisches Unternehmen als Flucht vor sich selbst.

Franziskus bricht die Expedition schon nach einem Tag ab, kehrt in seine Alltagswelt zurück und macht sich auf einen inneren Suchweg. Dieser führt an drei Orte im Umfeld Assisis, die je einen Durchbruch ermöglichen. Im verlassenen Klösterchen San Masseo findet der junge Kaufmann eine stille Krypta, die ihn zu sich selber führt. Im Aussätzigenhospiz San Lazzaro findet er zu einer Menschenliebe, die ihm «das Herz weckt». In der desolaten Landkirche San Damiano erwartet ihn ein überraschend naher, menschlicher und armer Christus.

Ein anderes Gottesbild

Die Stadt Assisi baut dem göttlichen Weltenherrscher eine Kathedrale. Ihr Portal zeigt ihn statisch über der Schöpfung thronend. Das machtvolle Gottesbild passt in eine Stadt, die sich über das Landvolk erhebt und Arme ausgrenzt, deren Bürger in Immobilien investieren, sich möglichst gut aufstellen und um einflussreiche Positionen kämpfen. Die Wege führen auf engem Raum nach oben und erstreben Karriere.

Franziskus entdeckt eine ganz andere Gegenwart Gottes: menschlich umarmt ihn der arme Christus von San Damiano auf einer Ikone in einer zerfallenen Landkirche. Nicht im Stadtzentrum, sondern draussen vor den Toren, nicht thronend, sondern ein Gefährte mit Gefährtinnen! Gottes Sohn, der sich auf unsere Welt eingelassen hat: nicht ziellos, nicht einfach, um mit uns Menschen unterwegs zu sein, sondern um uns zur Lebensfülle zu führen.

Das Ziel: Leben wie Jesus

Dabei wird bereits das göttliche Kind «am Weg geboren», wie Franz im Weihnachtspsalm ergriffen dichtet. Nach Jahren als Zimmermann in Nazareth bricht Jesus auf, um Gottes neue Zuwendung zur Welt – «das Reich Gottes» – in vielen Begegnungen spürbar zu machen. Er richtet Bedrückte auf, befreit Zwanghafte, heilt Kranke und führt Aussätzige ins Leben zurück. Er deutet den Weg Gottes mit seinem Volk neu, setzt prophetische Zeichen und sendet seine Jünger aus, um «Frieden in die Häuser und Dörfer zu bringen».

Drei leidenschaftliche Jahre unterwegs sprechen immer wieder von einem letzten Ziel: ein grosses Fest Gottes, ein Feiern ohne Ende, eine Gemeinschaft in der neuen Welt, von der niemand ausgeschlossen sein soll. Als Jesus mit etwas über 30 Jahren von den Mächtigen aus dem Weg geschafft wird, erinnert er seine Freunde beim letzten Mahl an das verheissene Fest: er trinke keinen Wein mehr, bis sie wieder vereint seien im Hause des Vaters.

Franziskus denkt weltweit

Ergriffen vom Weg des Gottessohnes mit uns Menschen steigt Franziskus aus, verlässt das familiäre Handelshaus mit seinen Immobilien, lässt das Gerangel um Positionen in der städtischen Gesellschaft hinter sich und wendet sich ab von Assisis statischem Gottesbild. Nach Jahren der Sinnsuche erkennt der Kaufmann seine neue Aufgabe in der Sendung der Jünger Jesu: den Frieden in die Welt zu tragen, Konflikte zu entschärfen, soziale Trennungen zu überbrücken, Ausgegrenzte in die Gemeinschaft zurückzubringen und prophetische Zeichen zu setzen, die aufleuchten lassen, wie die Evangelien sich die Welt menschlich und gottverbunden vorstellen.

Als Franziskus sieben Gefährten hat, teilt er sie in vier Gruppen auf. Je zwei Brüder ziehen nach Norden, Osten, Westen und Süden, damit sich der Auftrag des Auferstandenen erfülle und das Evangelium bis an die Grenzen der Erde verkündet werde. «Finisterre» liegt für Franziskus nicht nur an der spanischen Atlantikküste, sondern auch «jenseits der Meere»: im islamischen Afrika, in den Weiten Asiens und im Norden Schottlands, Fernziele, welche seine Brüder bereits vor 1250 erreichen.

Interessanterweise übernimmt Klara von Assisi das Pilgermotiv von Franziskus in ihre eigene Regel: «Pilgerinnen und Gäste auf Erden» sind auch ihre sesshaften Schwestern: innerlich unterwegs in eine Heimat, die jenseits dieser Schöpfung liegt.

Niklaus Kuster


 

«Christinnen und Christen leben in ihrem Vaterland, jedoch wie Pilgernde. Jede Nation ist ihnen Heimat, und jedes Vaterland ist ihnen ein fremdes Land».

Frühchristlicher Brief an Diognet.

Die Schweiz ist mit Strassen zugepflastert. Die Strassendichte pro 100km2 der Gesamtfläche beträgt in der Schweiz 173km, in Afrika 6,8km, in Lateinamerika 12km und in Asien 18km. Diese Strassendichte hat Nach- und scheinbar vor allem Vorteile. Mobilität gilt als Motor für die Entwicklung, schreibt Gabriela Neuhaus im DEZA-Magazin. Mobilität fördert den Austausch, aber auch die Abhängigkeit zwischen armen und reichen Nationen.

Wandernation Schweiz

Eindrücklich sind die Überlandstrassen in Kenia. Am Rand säumt eine endlose Karawane von Fussgängern die Fahrbahn. In Afrika sind 90% der ländlichen Bevölkerung zu Fuss unterwegs. Wer ähnliche Menschenkarawanen gesehen hat, der wird zurückhaltender mit der Vorstellung von einer Schweiz als Wandernation – ausser man unterscheidet klar zwischen freizeitlichem Vergnügungswandern und Alltäglichem-zu-Fuss-Gehen, weil man keine anderen Fortbewegungsmöglichkeiten hat. Helvetischer Alltag ist eher von verstopften Strassen und überfüllten S-Bahnen geprägt. Wanderwege sind selten überlaufen.

Schweizer und Schweizerinnen wandern, weil Bewegung gesund ist und sie dabei schöne Gegenden entdecken können. Um Bewegungsmuffel zu aktivieren, hat beispielsweise die Stadt Luzern ihren Bürgern Schrittzähler abgegeben. Im Notfall kann man in der Schweiz selbst beim Wandern auf befahrbare Strassen und Eisenbahnen ausweichen. Ist man verunfallt, dann erreicht man meistens schnell mit einer Ambulanz oder sogar einem Helikopter ein Spital.

Szenenwechsel nach Tansania: Eine schwangere Frau auf dem Land, ohne befahrbare Strasse in der Nähe ihres Hauses, sitzt fest, wenn sie Hilfe braucht. Bei Komplikationen während der Geburt gibt es kein schnelles Ankommen im Spital, mit entsprechenden Folgen für Mutter und Kind. Veloambulanzen gelten in vielen Entwicklungsländern als grosse Errungenschaft und sind ein erster Schritt in die richtige Richtung der Gesundheitsversorgung.

Zugang zu «Allwetterstrassen»

In Europa und China haben nach dem Rural Access Indicator die meisten, d.h. 87-100% der Menschen, eine Allwetterstrasse im Radius von zwei Kilometern von ihrem Wohnort entfernt. Spital, Arbeitsplatz und Schule lassen sich mit Fahrrädern oder Autos meistens relativ schnell und bequem erreichen.

In den USA, Russland und Argentinien sind es nur noch 71-86% der Bevölkerung, die eine Allwetterstrasse im Radius von zwei Kilometern zur Verfügung haben. In Mexiko, Brasilien sowie vielen arabischen Ländern sind es 50-70%. Bei den meisten afrikanischen Ländern liegt der Wert unter 50%. Nicht berücksichtigt ist beim Rural Access Indicator die Situation von Eisenbahnen und ÖV, welche für die Schweiz als weitere grosse Standortvorteile gelten.

Schüler auf dem Weg

Kurze und sichere Schulwege werden in der Schweiz gefordert und Leute, die in der Schweiz die Zuteilung der Schüler auf die Schulhäuser vornehmen müssen, haben oft Elternkontakt, weil die Erziehungsverantwortlichen der Meinung sind, dass der weite Schulweg und die Sicherheitsbedingungen ihren Kindern nicht zuzumuten seien. In der Schweiz ist es meistens so, dass die Schüler den Schulweg alleine unter die Füsse nehmen können und nicht von den Eltern wegen Gefahren oder Distanzen mit dem Auto gefahren werden müssten.

Szenenwechsel: In Nigeria müssen Kinder des ärmsten Fünftels der Bevölkerung bis zur nächsten Primarschule im Durchschnitt fünf Mal so weit reisen wie jene, die dem wohlhabendsten Fünftel angehören. Die Länge und die Sicherheit von Schulwegen scheint ein wichtiges Entwicklungs- und Reichtums-Merkmal zu sein. Dabei schneidet die Schweiz international nicht schlecht ab.

Tourist oder Vagabund?

Schweizer kennen nicht nur die Alltags- und Arbeitsmobilität. Sie sind auch in ihrer Freizeit oft unterwegs. Der polnisch-britische Soziologe Zygmund Bauman unterscheidet zwischen Touristen und Vagabunden. Der Tourist wählt in Freiheit, wohin er gehen will. Er bestimmt Reisemittel und Aufenthaltsorte nach eigenem Geschmack. Die Welt lässt sich geniessen und – sofern man genügend finanzielle Mittel hat – können ihre Angebote gekauft werden.

In der soziologischen Theorie von Zygmunt Bauman sind Vagabunden die anderen, die in unserer Gesellschaft auch unterwegs sind. Wie Touristen sind sie in Bewegung, können aber das Ziel ihrer Reise nicht aussuchen. Sie sind von Not getrieben, ihr Überleben zu sichern. Migranten (im Sinne von Bauman Vagabunden) fliehen vor Armut oder ungerechten Strukturen und hoffen auf ein besseres Leben an einem anderen Ort. Gerne möchten diese Vagabunden leben wie die Touristen, die auf der ganzen Welt zu treffen und meistens sehr willkommen sind.

Vagabunden bezahlen die Armen

Berechnungen der Weltbank zeigen, dass die Geldüberweisungen der regulären und irregulären Arbeitsmigranten an die zurückgebliebenen Familien ein Mehrfaches der internationalen Entwicklungshilfe (Official Development Assistance) betragen. In der Sprache des Soziologen Bauman könnte man sagen, dass vor allem die Vagabunden den Süden finanziell unterstützen und so die Entwicklung beschleunigen. Zusätzlich müsste es jedoch nach der Global Commission of International Migration (GCIM) gelingen, die Migrationsprozesse durch internationale Kooperationen zu steuern und zu humanisieren.

Es wird vermutet, dass künftig wegen sicherheitspolitischen Überlegungen auch die reichen Länder an internationalen Lösungen und internationaler Zusammenarbeit interessiert sein müssten. Dabei sind jedoch sowohl die Touristen wie auch die Vagabunden in den Blick zu nehmen. Zu berücksichtigen wäre auch noch, die von den reichen Ländern gewollte Arbeitsmigration. Nicht nur das Gesundheitswesen der Schweiz hätte ohne ausländische Vagabunden viel zu wenig Arbeitende.

Pilgern ist anders

Pilger verstehen sich nicht als Touristen und auch nicht als Vagabunden. Pilgern hat religiöse Wurzeln, auch wenn nicht alle Pilger ihr Tun als religiöse Übung verstehen. Es geht beim Pilgern um den Weg zu sich und für religiöse Menschen auch um einen Weg zu Gott. Vor allem der Weg ist das Ziel. Die Erfahrungen des Gehens und der Begegnungen unterwegs zählen.

Franz von Assisi geht noch einen Schritt weiter. Das Leben ist eine Pilgerschaft. Darum sollen seine Brüder das Leben als eine Pilgerschaft zu Gott verstehen. Hier auf Erden sind sie noch fremd, finden dann in Gott ihr Ziel. Diese Haltung lädt jedoch nicht ein, der Welt zu entsagen, sondern im Gegenteil, die Welt zu gestalten und vor allem in den sozialen Brennpunkten mit den Menschen am Rand solidarisch zu sein.

Adrian Müller

Das Ordensleben ist von Anfangan geprägt von einem starken Miteinander von Männern und Frauen bei der Suche nach einem Leben in der Nachfolge Jesu. Diese Gemeinsamkeit war aber nie so selbstverständlich, wenn es z.B. um die Ausbildung von Institutionen ging,in denen die Frau im gleichenMasse wie der Mann ihre Charismen im Raum der Kirche einbringen konnte.

An der Wende zum 13. Jahrhundert wurde das Zugehen auf dieWelt ein wesentliches Element des Ordenslebens. Doch für das weibliche Ordensleben vollzog sich dieÖffnung auf die Welt hin erst im 19. Jahrhundert.

Religiosität und Berufsarbeit

19. Jahrhundert: Kaum war der Höhepunkt der Französischen Revolution überschritten, setzte ein überraschender Aufschwung desOrdenslebens ein. Allein in der Zeit zwischen 1800 und 1899 entstanden 91 Kongregationen päpstlichen Rechts.

 Die katholische Geschichts­schreibung thematisiert diese Entwicklung unter dem Schlagwort «Ordensfrühling». Bei genauerem Hinsehen lässt sich feststellen, dass es sich um die Entstehung und rasche Ausbreitung von Frauenklöstern handelte. In den Jahren zwischen 1800 und 1880 sollen 100‘000 junge Frauen in französischen Noviziaten gewesen sein.Die religiöse Lebensform dieser neuen Gemeinschaften kann mit den beiden Ausdrücken «Religiosität und Arbeit» charakterisiert werden.

Es handelt sich erstens um eine religiös motivierte Lebensform. Alle Gemeinschaften entstanden aus dem gleichen Grundimpulsheraus: nämlich der sozialen, moralischen und geistigen Not der damaligen Zeit vom christlichen Glauben her zu wehren. Sie nahmen ihr Vorbild im Heilshandeln Jesu Christi.

Das zweite Kennwort dieser Gemeinschaften heisst Arbeit, Berufs­tätigkeit. Weibliche Tätigkeitsberei­che gewannen gesellschaftlicheBedeutung. Für die Übernahme dieser Aufgaben fehlten den öffentlichen Organen die Einrichtungen und geschultes Personal. Diese Lücke haben in katholischen Gebieten zu einem beträchtlichen Teil die Frauenkongregationen ausgefüllt. Weil sich ihre Arbeit zwischen Beruf und Barmherzigkeitansiedelte, brachte sie den Gemeinden auch finanzielle Vorteile. Die Kongregationsschwestern waren die ersten Unternehmerinnen. Sie riefen Tausende von karitativen und erzieherischen Unternehmungen ins Leben. Mit der katholischenKirche zusammen wollten die Frauen in den Kongregationen die christliche Weltordnung erhalten.

Das Ordensleben, das im 19. Jahrhundert neu aufbrach, war von einer grossen spirituellen Kraft beseelt. Aber im geistlichen Profil entwickelten die allermeisten Gründungen wenig Neues. Dies barg Konfliktstoff in sich, der im Lauf der Zeit immer häufiger Anlass zu Schwierigkeiten gab und in der Konzils- und Nachkonzilszeit brach der Konflikt aus.

Tiefgreifende Wandlungsprozesse

Bereits seit den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts kündigten sichtiefgreifende Wandlungsprozessean. Als erstes wurde über Nachwuchsmangel geklagt. Dieser führte in den 70er- und 80er-Jahren zu einer Überalterung der Gemeinschaften. Zugleich ging der Nachwuchs rapide zurück und versiegte teilweise. Durch den Mangel an eigenen Kräften wurden bereits ab den 50er-Jahren immer mehr weltliche MitarbeiterInnen nötig, was eine Bereicherung, aber auch eine starke finanzielle Belastung darstellte.

Die Frauenorden führten grosse soziale und pädagogische Werke. Diese mussten vielfach aufgegeben werden. Wo man sich für deren Erhalt entschied, wurden neue Rechts- und Trägerformen gesucht. Diese Prozesse brachten und bringen eine finanzielle Absicherung und sichern den strukturellen Zukunftsbestand.

Sie machen aber auch eine neue Professionalisierung und Managementkompetenz erforderlich. Ordensleute werden zu ManagerInnen. Zugleich kommen heute weltliche Mitarbeiterinnen zunehmend auf die Führungsebene.Was die Umstrukturierungsprozesse betrifft, empfinden jüngereMitglieder die Werke oft als Zeit-und Energiefresser. Sie suchen ehernach neuen Gemeinschaftsmodellen, mitten unter den Menschen.

Im Blick auf die zahlreichen Kri­senmomente der Gegenwart muss gefragt werden, ob den traditionellen Frauenkongregationen neues Leben eingeflösst werden kann. Es ist nicht klar, ob sie eine alternde Struktur einer vorkonziliären Kirche sind oder ob sie am prophetischen Zeugnis einer neuen Weltteilnehmen.

Aber in den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte finden sich auch positive Zeichen, die Hoff­nung geben. Die Zukunft des Ordenslebens, noch weniger die Zukunft der eigenen Gemeinschaftkann durch eigene Kraftanstren­gung gemacht werden. Der Wegder Erneuerung ist zunächst einspiritueller, kein reformerischer.

Bettlerinnen für eine neue Erfahrung Gottes

Papst Franziskus weist im Schreiben an die Ordensleute vom 21. November 2014 auf die Gründungender Gemeinschaften hin, die alle «aus dem Ruf des Geistes hervor­gegangen» sind, um «Christus nachzufolgen, wie es im Evangelium gelehrt wird». Deshalb heisst die erste Frage für Ordenschristen,ob sie sich «vom Evangelium hinterfragen lassen», ob «Jesus wirklich die erste und einzige Liebe ist».Deshalb sollten Ordenschristinnen zuerst Bettlerinnen um eine neue Erfahrung Gottes sein, artikuliert in einer neuen Erfahrung der Welt.

Kollektives Sendungsverständnis

Die Gemeinschaften der Kongregationen waren vor allem Dienstgemeinschaften, d.h. sie wurdengebildet, um eine Aufgabe zu erfüllen. Diese waren von grosser Bedeutung für die persönliche undkollektive Identität. Ihnen fehlte aber meist eine kohärente spirituelle Grundlage. Zwar übernahmen viele Frauengemeinschaften alteOrdensregeln. Doch wurde der lebendige Geist der Vorbilder nicht eingefangen. Die Rückwärtsorientierung zeigte sich auch darin, dass sie die monastische Tradition aufleben liessen. Das führte zu einer Zweiteilung des Lebens zwischenKloster und Tätigkeit.

Von dieser Situation her war in der Nachkonzilszeit eine Vertiefung des Sendungsverständnisses unumgänglich. Viele Gemeinschaften vergewisserten sich ihrer spirituellen Grundlage. Sie haben sich z.B. bemüht, ihre jesuitische, dominikanische oder franziskanische Spiritualität vertieft aufzunehmen. Die Bewegung, die sich heute in Gemeinschaften abzeichnet, kann ausgedrückt werden mit den Worten: Von einer gemeinsamen Sendung zu einer «Sendung in Gemeinschaft» (B. Hallensleben).Was heisst das?

Kollektive Kraft

Heute fällt es den Ordensgemeinschaften meist schwer, ihren Dienst als einen gemeinschaftlichen darzustellen. Denn von 1970 weg haben sich die apostolischen und sozialen Engagements der Schwestern verwandelt. Im Gegensatz zu früher treten Frauen heute meist mit fertigen Ausbildungen und Studien ein, die sie einsetzen wollen. Auch zeigt sich eine starkeTendenz zu pastoralen und theologischen Aufgaben.

Die heutige Krise kann nur dann überwunden werden, wenn die Gemeinschaft einer gemeinsamenSendung nachgeht, die aber kaum mehr in einem fest umrissenen Werk besteht. Es müssen neue Gemeinschaftsmodelle entwickelt werden, in denen heutige Vorstellungen von Gemeinschaftsleben,von Gebet und Dienste realisiert werden können: «Sendung in Gemeinschaft zu erneuern, heisst also auch, die kollektive Kraft, die das Ordensleben besitzt, zu erneuern. Die Orden sind Gemeinschaften, die gemeinsam die eine Sendungin den vielfältigen konkreten Sen­dungen verfolgen». (Ute Leimgru­ber)

Apostolischer Charakter

1966 sagte Alois Sustar, der damalige Regens des PriesterseminarsChur, an einem Generalkapitel in Ingenbohl in prophetischer Weise: In Zukunft werden sich die einen weiblichen Kongregationen stärker ins Kloster zurückziehen. Die anderen werden tiefer in die Welt eindringen.

So stellen wir heute fest, dass einzelne Gemeinschaften stärker das klösterlich-monastische beibehalten haben, dabei ihre Klöster als geistliche Orte gestalten. Andere Gruppen brechen auf in eine grössere Nähe zu den Menschen im Alltag: Sie wohnen unter einfachen Bedingungen in sozialen und religiösen Brennpunkten, meist inStädten.

Als wichtigstes Kriterium für dieWahl von Diensten hat sich in der Kirche in der Nachkonzilszeit die «Option für die Armen» herausgestellt. Sie wird sogar als einziger Weg der kollektiven Erneuerungbetrachtet. Die Armut hat seit eh und je viele Gesichter. Heute findet sich häufig geistliche Armut. Und unter den Armen dieser Welt sind Frauen die Ärmsten. Deshalb ist in vielen Gemeinschaften die Solidarität mit den Frauen von grosserBedeutung geworden.

Zoe Maria Isenring


Unsere Autorin

Die Ingenbohler Schwester Zoe Maria Isenring schrieb zum Thema dieses Artikels ihre Doktorarbeit und veröffentlichte sie unter dem Titel: «Die Frau in den apostolischtätigen Ordensgemeinschaften. Eine Lebensform am Ende oder an der Wende». Leider ist das Buch vergriffen.