Nach der Schulzeit in Monthey fing Isabelle an, sich für japanische Spiritualität und Reiki zu interessieren. Obwohl sie eigentlich dem reformierten Christentum angehörte, machte ihr das kaum Mühe. Reformierter Glaube kam dem Geschmack der jungen Frau als zu streng und zu nüchtern vor. In einem japanischen Meditationszentrum begegnete sie dem Mann, der ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen sollte; weit über das hinaus, was sie sich je hätte träumen lassen.

Ein spiritueller Mensch

«In meiner freien Zeit ging ich häufig ins Meditationszentrum. Fumiharu hiess der Mann, der für Spiritualität zuständig war. Eines Tages kreuzten sich unsere Blicke; der Funke war gesprungen. Ich war nicht mehr die, die ich vorher gewesen bin. Früher hätte ich nie daran gedacht, einen Fremden zu heiraten und meine Heimat zu verlassen.»

Nach einer schlichten Hochzeit, genauso wie sie es sich ausgedacht hatte, bezog Isabelle in Genf eine einfache Zweizimmerwohnung. Bald brachten zwei Kinder neues Leben. Isabelle war für sie eine besorgte und aufmerksame Mutter.

Kulturelle Unterschiede

Unter einem eher schüchternen Äussern verbirgt sich unverkennbar ein rebellischer Charakter. «Am Anfang fiel es mir sehr schwer, das Macho-Gehabe meines Mannes zu akzeptieren. Es kommt hinzu, dass ich grösser bin als er; er wollte aber immer, dass ich einen Meter hinter ihm herging. Ich verbrachte viel Zeit mit meinen Kindern daheim. Unser Leben gefiel mir mehr, als ich es mir hätte vorstellen können. Was Liebe nicht alles zustande bringt!

Mein Mann war sehr stark mit seinen beruflichen Tätigkeiten beschäftigt. Aber wenn er heimkam, war er den Kindern gegenüber ein fürsorglicher und liebevoller Vater. Er liebte es auch, wenn ich ihn umsorgte; er zeigte sichtlich Freude an den Gerichten, die ich für ihn gekocht habe. Unser Leben war einfach, aber wir waren glücklich.»

Der grosse Abschied

Isabelle war in Erwartung, als ihr Mann nach Japan zurückgerufen wurde. Er folgte einer Ernennung zum spirituellen Verantwortlichen seines Ordens in der Region vom Kobé. Ein weiterer Grund für eine  Heimkehr nach Japan war auch sein betagter Vater, der unterdessen seine Frau verloren hatte und sehr gebrechlich geworden war. Der Ehemann verhielt sich, wie es in Japan die gesellschaftliche Regel verlangt.

«Zusammen mit meinen Kindern, den beiden Buben und dem noch ungeborenen Mädchen, tat ich einen grossen Schritt ins Unbekannte. Ich zog nach Japan. Nach und nach lernte ich die Riten und Gebräuche meiner neuen Heimat kennen. Ich musste die japanische Sprache lernen, um mit meiner Umgebung und der Familie meines Mannes kommunizieren zu können, auch um das soziale Leben meiner Kinder in der Schule und in der Freizeit zu begleiten. Ich habe mir auch das Fahren in einem rechtsgesteuerten Auto angeeignet. Ein ganzes Programm!

Das Erdbeben von Kobé

Am Morgen des 17. Januars 1995 – am Abend vorher hatten wir den Geburtstag meines Mannes gefeiert – riss uns ein riesiger Knall aus dem Tiefschlaf: Das Erdbeben von Kobé zerstörte auf einen Schlag sämtliche Häuser unseres Quartiers. Es gab viele Tote. Wunderbarerweise blieb unser Haus unbeschädigt. Aber wir mussten ins Haus meines Schwiegervaters fliehen, weil man unser Haus aus Sicherheitsgründen vom Gas und vom Wasser abgeschnitten hatte. Unter diesen prekären Bedingungen wurde meine Tochter mit Hilfe einer Hebamme im Haus meiner Schwiegereltern geboren. Die Umgebung war japanisch.

Wegen der dramatischen Konsequenzen des Erdbebens war das Leben sehr kompliziert geworden. Unsere Partnerschaft hielt der Belastung stand, auch darum, weil wir unsere spirituellen Werte gegenseitig respektierten und sie miteinander teilten. Und das jenseits von Shintoismus und Protestantismus, jenseits von Westen und Osten, auch jenseits des ewigen Konflikts zwischen Mann und Frau.

Herausforderungen bestehen

Aus zeitlichem Abstand kann ich sagen, dass diese schmerzhafte Prüfung unsere Partnerschaft noch fester geknüpft und unsere Familienbande gestärkt hat. Und das, obwohl unsere Kinder damals noch zu klein waren, um die Tragweite der Katastrophe wahrnehmen zu können. Dank göttlicher Hilfe wurde unsere kleine Familie vom Schlimmsten bewahrt. Noch heute sind wir dankbar für das, was uns geschenkt worden ist. Ich habe nie daran gedacht, in die Schweiz zurückzukehren. Es kam noch besser: Wir haben eine grössere Wohnung gefunden und unsere Familie besteht nun aus Eltern und acht Kindern.

Ich wecke noch immer Neugier, weil ich die einzige Europäerin im Quartier bin und zudem Mutter von acht Kindern, was für japanische Verhältnisse ganz aussergewöhnlich ist. Der Lohn meines Mannes war immer recht klein; ich selbst widme mich ganz der Erziehung unserer Kinder. Wir verfügen eine Stunde von unserer Wohnung entfernt über einen kleinen Garten. Wir produzieren Bio und danken Gott für alle Wohltaten, mit denen er uns beständig beschenkt. Er sorgt dafür, dass wir immer genügend Gemüse haben.

Eine neue Religion

Es fiel mir nie schwer, auf meine reformierte Religion zu verzichten. Es scheint mir, dass sie einfach zu wenig Tiefe hat. Mit einem östlicheren Zugang zu Gott, mit dem Glauben an die Inkarnation und mit der Verehrung der Ahnen fühle ich mich mit einem Gefühl des Erfülltseins bereichert. Die Kinder und mein Mann überhäufen mich mit Zeichen der Freude. Ich bin dankbar für das Wirken, das Gott in die Wege leitet.

Gewiss, meine Familie in der Schweiz fehlt mir. Aber verschiedene Male hatte ich die Chance, meine Eltern und meine Schwester zu besuchen. Ich wollte ihnen meine Kinder vorstellen. Eltern und Schwester sind auch nach Japan gekommen, um zu sehen, wie ich lebe. Sie waren ganz entzückt. Jetzt brauche ich technische Hilfsmittel, wenn ich mit ihnen in Kontakt trete. Auf unserem Computer haben wir eine Kamera installiert, so kann meine Mutter sehen, wie ihre Grosskinder grösser werden. Die Distanz bleibt, aber die Verbindung mit dem Herzen hat Bestand.

Eine grosse Umstellung

Am Anfang war so vieles neu für mich, so dass mir schwindelig wurde, wenn ich mich mit drei kleinen Kindern in die Untergrundbahn hineinzwängen sollte. Manchmal konnte ich auch die verschiedenen Schilder in japanischer Sprache nicht verstehen. Ich lernte auch, dass ich bei jeder Geburt Geschenke erhielt. Man muss wissen: Wenn man in Japan ein Geschenk erhält, dann muss man ein Geschenk zurückgeben, das mindestens halb so viel wert ist wie das, das man vorher erhalten hat. Mit unserem knappen Budget war es nicht immer leicht, dieser Verpflichtung nachzukommen. Aber wir sind glücklich, trotz aller Schwierigkeiten.

Es sind jetzt 20 Jahre her, dass ich in Japan angekommen bin. Ich bedaure nicht, hierher gekommen zu sein. Wir haben zwar in einem bestimmten Augenblick daran gedacht, in die Schweiz zurückzukehren. Den Ausschlag für die Entscheidung hat schliesslich gegeben, dass die Kinder sich hier in Japan wohlfühlen. Wir achten sorgfältig darauf – ohne sie zu «überbehüten» – sie vom Stress zu bewahren, den eine Megapolis wie Osaka notwendigerweise mit sich bringt.

Wir haben den Kindern spirituelle Werte beigebracht und waren für sie immer da. Es hat Früchte gebracht, dass ich während dieser ganzen Zeit daheim geblieben bin und einzig für die Erziehung der Kinder da war. Ich darf sagen, dass mein Leben als Ehefrau und Mutter geglückt ist, und das trotz des tiefen Grabens zwischen den Kulturen, Riten und Religionen. Im Gegenteil: Diese Verschiedenheiten waren der Zement für unsere Ehe und sie haben unserer grossen, schönen Familie Halt gegeben.»

Nadine Crausaz

Übersetzung: Thomas M. Huber

Ehe ist ein partnerschaftlicher Lebensweg. Es geht um Beziehungsfindung und Beziehungspflege, um das tiefere Kennenlernen des geliebten Du und die damit wachsende Achtung. Ehe ist ein gemeinsamer Lernweg für eine neue Lebensausrichtung: weg vom eigenen Ich und hin zum Du, wachsende Aufmerksamkeit, Zuwendung, eben Liebe.

Das gilt in jedem Lebensbereich. Christliche Ehe ist vom glaubenden Bewusstsein geprägt, dass Gott in diesem Lebensweg seine Hand im Spiel hat, und zwar in besonderer, das heisst in spezifischer Weise, die diesem Lebensentwurf Rechnung trägt. Gott steht nicht zwischen den zwei Menschen eines Ehepaares, sondern er geht mit ihnen. Dabei steht Gott als «Dritter im Bund» (wie das oftmals etwas eigenartig genannt wird) den beiden Menschen nicht im Weg, sondern er steht diskret im Hintergrund und befähigt sie dazu, aufeinander zu zuleben. Gott stört nicht die Intimität von Frau und Mann, sondern er ergänzt und fördert sie mit seiner Liebe.

Paulus bezeichnet Ehe als Charisma, als Gnadengabe also (– was uns viel zu wenig bewusst ist, siehe 1 Kor 7,7). Das bedeutet: Ehe wird in der Dynamik (Lebendigkeit) der Geistkraft Gottes gelebt, die Gott selbst dazu gibt. Eine christliche Ehe ist ohne das Miteinbeziehen Gottes im Grund nicht möglich.

Ehe – Suche der Spuren Gottes

Deswegen ist das Leben in der Ehe aber nicht mit besonderen religiösen Pflichtübungen verbunden. Es geht vielmehr darum, sich gemeinsam auf diesen Lebensweg zu machen und gemeinsam unterwegs zu bleiben. Menschen, die sich als Christinnen und Christen verstehen, werden in diesem Zusammenhang von Zeit zu Zeit darüber nachdenken, was die biblische Erzählung von der Erschaffung des Menschen bedeuten kann: «Gott schuf den Menschen als sein Abbild. Als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie» (Gen 1,26). Ehe kann diesen Gottesbezug erfahren lassen – nicht als eine weit hergeholte theologische Wahrheit, sondern: Frau und Mann können sich auf eine lebenslange Entdeckungsreise machen, wo sie denn diese Spuren Gottes in ihrer Partnerin und in ihrem Partner entdecken. Für diese Entdeckungsreise gibt es keine Methode, jedes Paar tut dies auf eigene Weise; von Zeit zu Zeit sollten sie es gemeinsam tun oder gemeinsam Zwischenbilanz ziehen. Kein Lebensbereich ist ausgenommen.

• Die Spurensuche mag Frau und Mann in die intimsten Erfahrungen ihrer Liebe führen, denn gerade dort, wo Frau und Mann miteinander diese einzigartige gegenseitige Zuneigung spüren und erleben, sind sie in ihrer Liebesfähigkeit der Liebesermächtigung Gottes am Nächsten. Das mag zu geteiltem Glücksempfinden führen, vielleicht da und dort (besonders im Rückblick) auch zum dankenden und lobenden Gebet.

• Die Spuren, die Gott in die Zweisamkeit von Frau und Mann legt, können auf den Segen zurückgeführt werden, den Gott für Frau und Mann im Schöpfungsgeschehen

bereithält: «Seid fruchtbar und vermehrt euch …» (Gen 1,27). Gott gibt den Menschen in ihrer gemeinsamen Zweisamkeit alles mit, was Gott geben kann – selbst die schaffende Kraft für neues Leben: kein Muss, sondern ein gesegnetes (also: mit dem Wohlwollen Gottes begleitetes) Können und Dürfen.

• Frau und Mann können Gottes Spuren in ihrem gemeinsamen Alltag entdecken. Im ersten Lächeln, im ersten guten Wort am Morgen, in der Gemeinschaft des Heimes, in der gewährten, besser: geschenkten Unterstützung der Partnerin oder des Partners, im Trost und im Aufrichten des mutlosen Ich. Der Schluss vom Kleineren zum Grösseren legt sich nahe: Wenn schon zwischenmenschlich so viel Schönes und Hilfreiches erfahrbar ist, wie intensiv muss dies sein, wenn Gott nicht nur seine Hand im Spiel hat, sondern selbst in dieser Lebensgemeinschaft erfahren wird?

• In der Trennung, im Streit und dem damit verbundenen Leid erhalten Frau und Mann einen Geschmack vom (Mit-)Leiden Gottes. Dann mag seine Treue Vorbild sein und seine Bereitschaft zu verzeihen den Weg zueinanderfür das wortlose Paar erneut erschliessen.

• Für das Wahrnehmen der Spuren Gottes im gemeinsamen Leben bedarf es vor allem der Achtsamkeit und eines einfühlendenBewusstseins seiner Gegenwart in dieser Lebensgemeinschaft. Das mag dann und wann in den eigenen Gedanken aufblitzen. Es kann im ausdrücklichen Gebet bedacht und dankbar benannt werden.

• Die Feinfühligkeit für die Spuren Gottes im geliebten Du ist von der Sehnsucht und Herausforderung begleitet, sie immer neu zu ergründen, sie bewusst zu erhalten und selbst Mass daran zu nehmen.

Ehe – miteinander unterwegs

Die Lebendigkeit der Ehe steht und fällt mit der Kraft der gegenseitigen Beziehung und der beiderseitigen Bereitschaft zur Kommunikation. Sprachlosigkeit wirkt lähmend und raubt dem Du die Möglichkeit zu antworten. Kommunikation beschränkt sich bekanntlich nicht auf Worte, sondern umfasst den ganzen Menschen «mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft». Das gilt für den Austausch zwischen Ich und Du und umgekehrt.

Es gilt auch für das Wir mit Gott und umgekehrt. Christinnen und Christen, die um den Ort Gottes in ihrer Ehe wissen oder diesbezüglich eine hoffende Ahnung haben,werden nicht nur jede/r für sich, sondern gemeinsam, als Wir, mit diesem Gott in Austausch treten. Da geht es nicht um grosse Rituale und viele Worte (schön, wenn dies auch einen Platz hat), sondern schlicht um das bewusste Miteinandersein vor Gott: im gemeinsamen Schweigen, im Fühlen, im Hinhören, schliesslich im Lieben.

«Mitten unter ihnen» ist nach den Worten Jesu der Herr, wenn zumindest zwei Menschen in seinem Namen versammelt sind (Mt 18,20). Der mögliche Bogen dafür/ spannt sich weit: vom gegenseitigen Kreuzzeichen am Morgen als Segen für den Tag bis zur Hausliturgie, dem Tisch- und Abendgebet, der Wortfeier im häuslichen Rahmen oder dem (Kleinen) Stundengebet, miteinander gesprochen zur Strukturierung des Tages. Die Ehe als kleinste Verwirklichungsform von Kirche ist zwar eine geistliche Grösse, beschränkt sich deshalb aber nicht auf einen religiösen Rahmen. Gottes Mitgehen mit einem Paar darf als Lebensbegleitung verstanden werden. Da tritt einmal der gekreuzigte, einmal der auferstandene und erhöhte Herr stärker ins Bewusstsein – je nach Lebenssituation, nach Ort und momentaner Beschaffenheit des gemeinsamen Lebensentwurfes.

Ehe ist nicht nur eine Lebens-, sie ist auch eine Glaubensschule. Das Hauptfach heisst lieben lernen: unter wachsender Achtung der Eigenständigkeitdes Du gegenseitig auf dieses Du zuwachsen – dies im Bewusstsein der Ermächtigung, diedafür von Gottes Geistkraft angeboten wird. Es ergibt sich notwendigerweise, dass Gott in diesen Lernprozess miteinbezogen ist.

Für diese Schule braucht es viel Vertrauen, Fantasie, Mut und Kreativitätsowie die Freude daran, das eigene Schneckenhaus zu verlassen, um dem geliebten Du zu begegnen. In diesem Vorgang kann ich Gott erahnen und sogar erfahren– einen anderen Weg dafür

wird es in der Ehe für Frau und Mann wohl nicht geben.

Walter Kirchschläger

Ehe und Familie stehen in einer multikulturellen und global werdenden Welt vor stets neuen Herausforderungen. Dabei sind die alten Herausforderungen oft noch nicht einmal richtig gelöst. Schon wieder zeigen sich neue Fragestellungen. Die christlichen Kirchen haben noch nicht einmal ihre ökumenischen Bereiche geklärt und schon müssen sie sich mit interreligiösen Fragen auseinandersetzen.

Ökumenische Fragestellungen

In einem Gespräch wurde letzte Woche von einem Ehepaar erzählt; sie ist reformierte Pfarrerin (lutheranischer Abstammung) und er als katholischer Theologe im kirchlichen Dienst der römisch-katholischen Kirche. Jemand rief in die Diskussionsrunde: «Geht denn das?»

Vor zwei Wochen kam eine verärgerte Frau. In ihrer Familie sollte ein Kind gefirmt werden. Nach alter Familientradition ist beim Mädchen stets der Ehepartner der Gotte als Firmgötti vorgesehen. Der Götti ist jedoch reformiert. Nun ist seit kurzem ein junger Pfarrer in der Pfarrei und der verlangt für die Firmung römisch-katholische Paten – obwohl in dieser Pfarrei bisher auch reformierte Mitchristen dieses Amt übernehmen konnten. Und wie wäre es nun mit einem hinduistischen Firmgötti?

Spricht man mit Ehepaaren, die Goldene Hochzeit und noch längere gemeinsame Perioden erleben durften, dann erzählen diese manchmal, dass es früher noch keine ökumenischen Hochzeiten gab. Der Teil des Paares musste die Konfession wechseln, damit eine Heirat möglich wurde. Auch gab es Vorgaben über die Konfession der Kinder. Mit den ökumenischen Hochzeiten sind einige Schwierigkeiten gelöst. Doch wie steht es nun mit der gemeinsamen Kommunion? Man darf zwar miteinander eheliche Intimität leben, aber nicht zusammen an den gleichen Tisch des Herrn sitzen. Geht das?

Interreligiöse Fragestellungen

Religiosität zeigt sich heute immer mehr in einem eigenen Glauben in oder abseits von religiösen Überlieferungen. Dabei heisst es nicht immer, dass zwei unterschiedliche Religionen aufeinander treffen. Immer mehr Menschen verstehen sich als areligiös, das heisst, Religion spielt für sie in ihrem Leben keine Rolle mehr. Sie ist bedeutungslos geworden. Damit sind sie nicht einmal mehr atheistisch und müssen auch nicht gegen Glauben des Anderen ankämpfen.

Auch zu beachten ist im interreligiösen Dialog, dass andere Religionen wie auch das Christentum aus unterschiedlichsten Konfessionen bestehen, die manchmal unter sich selber zerstrittener sind als mit anderen Religionen. Ein Christ muss mit einem Taoisten nicht über taoistische Lehrsätze und Lehrmeinungen streiten.

Zwei Lösungsansätze

Im Buch von Frieder Harz «Interreligiöse Erziehung und Bildung in Kitas»(Vandenhoeck 2014)  werden unteren anderem die Fremdheitskompetenz und die Toleranz für das interreligiöse Zusammenleben beschrieben. Sie sollen hier kurz aufgegriffen werden – die Beschreibungen der beiden Konzepte finden sich in den beigefügten Kasten als wörtliche Zitate.

Religionen wie auch persönlicher Glauben kennen oft eine Wahrheit oder zumindest eine Überzeugung. Eine interreligiöse Begegnung mit Fremdheitskompetenz ermöglicht ein Wahrnehmen des Anderen, des Fremden, ohne es unkritisch in sein eigenes Glaubensleben zu integrieren, aber auch ohne es einfach zu ignorieren. Der Mensch entwickelt eine kritische und wohlwollende Distanz. Wie heisst es doch so schön im ersten Brief an die Thessalonischer: «Prüft aber alles, das Gute behaltet!» (1 Thess 5,21)

Früher ging es darum, anderen die eigene Religion zu bringen – andere würde sagen aufzuzwingen. Wie heisst es doch so schön im Matthäusevangelium: «Geht hin und macht alle Völker zu Jüngern. Tauft sie auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.» (Mt 28,16). Modern ist es nun, dem Anderen erst gar nicht zu begegnen, was einer passiven Toleranz entspricht. Ein grosses Ziel der aktiven Toleranz könnte darin liegen, den Anderen in seinem Anderssein zu verstehen suchen, ohne selber so zu werden, zu denken und zu handeln.

Adrian Müller

http://www.adrianm.ch


Info: Fremdheitskompetenz

Fremdheitskompetenz beginnt damit, sich bestehende Deutungs- und Handlungsmuster im Umgang mit Fremdem klar zu machen. Oft sind es zwei sehr gegensätzliche: zum einen das Ablehnen und Ausgrenzen des Fremden, zum anderen das integrierende Aufnehmen, dessen Verwandlung in Vertrautes. In beidem geht es um das Verschwinden des Fremden. Es verliert seine Bedeutung.

Vereinnahmung geschieht durch Verstehen und nachfolgendes Handeln, welches das Unterschiedliche aufhebt, alles Widersprüchliche unsichtbar zu machen versucht. Religiöse Eigenheiten werden ausgeklammert, es wird nur das sie Übergreifende gesucht: Das islamische Schweinefleischverbot wird zur Grundregel für das ganze Haus. Das nicht mit anderen Religionen kompatible Weihnachtsfest wird zum Winterfest. Das verstehende, integrierende Entgegenkommen nimmt dem je anderen sein Eigenes.

Ausgrenzung geschieht durch Ausschluss. Wir finden sie in Argumenten wie: «Wer sich bei uns anmeldet, weiss, worauf er sich einlässt (und hat kein Recht, sich mit seinem Eigenen bemerkbar zu machen)». Oder auch: «Zuerst sollen die Kinder den christlichen Glauben kennenlernen, erst dann sind sie zu Begegnungen mit anderen Religionen bereit.» Das bedeutet dann zunächst nichts anderes als die Ausgrenzung des Anderen.

Fremdheitskompetenz bedeutet, beidem sein Recht zuzugestehen und es zugleich zu kontrollieren und zu begrenzen: In jedem Verstehen steckt auch etwas Vereinnahmendes, in jeder Irritation durch Fremdartiges auch etwas Ausgrenzendes. Aber das eine kann das andere in Grenzen halten: Das Irritierende bleibt im annehmenden Verstehen wach, und die Bereitschaft zum Verstehen stellt sich den Impulsen zur Ausgrenzung entgegen.

In: Harz «Interreligiöse Erziehung und Bildung in Kitas», S. 25.


Info: Passive und aktive Toleranz

Toleranz ist im ursprünglichen Wortsinn «Duldsamkeit» im Sinne der Bereitschaft, Spannungen und Widersprüche zu anderen Meinungen und Überzeugungen zu ertragen. Dazu gehört die Gleichberechtigung, die anderen zugesteht, was man für sich selbst in Anspruch nimmt. Solches Ertragen kann allerdings sowohl als ein aktives als auch ein passives verstanden und praktiziert werden.

Passive Toleranz lässt Widersprüche stehen, findet sich mit ihnen ab, sieht auch keinen Sinn darin, sich auf Auseinandersetzungen mit anderen Meinungen und Personen einzulassen. «Jeder soll nach seiner Façon selig werden», dieser Satz Friedrichs des Grossen ist die angemessene Haltung einer weltanschaulich neutralen Obrigkeit, die sich in religiöse Auseinandersetzungen nicht einmischt. Aber ins gesellschaftliche Miteinander weitergedacht, führt dies zum Abdrängen religiöser Einstellungen ins Private. Bei Privatangelegenheiten anderer hält man sich besser heraus. Verschiedene Arten zu glauben sind dann kein öffentlich relevantes Gesprächsthema, bei dem Klärungen erwartet werden.

Aktive Toleranz geht weiter. Das Recht auf persönlich verantwortete Glaubensüberzeugung wird akzeptiert, aber zugleich wird auch die Auseinandersetzung mit anderen gesucht und gepflegt. In ihr geht es im Zeichen des Aufeinander-Hörens und Voneinander-Lernens darum, die Möglichkeiten des Verständnisses füreinander so weit wie möglich auszuloten, auch dessen Grenzen ehrlich zu benennen. Man will gemeinsam unterwegs zu sein – ohne das Ziel verfolgen zu müssen, andere vom Eigenen überzeugen und zu ihm bekehren zu wollen. ‹Missionierung› als Auftrag, den eigenen Glaubens zu vertreten, heisst dann, das Eigene überzeugend darzustellen– und zugleich dem Gegenüber den Umgang damit freizustellen. Das schliesst umgekehrt auch ein, dasselbe für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Aktive Toleranz ist ein Ringen um Unterschiede und Gemeinsamkeiten, das den anderen in seinen Ansichten und Überzeugungen ernst nimmt.

In: Harz «Interreligiöse Erziehung und Bildung in Kitas», S. 85.

Wer an Bolivien denkt, sieht vor sich hohe Berge, karge Hochebenen, mit hohem, trockenem Paja-Gras bewachsene Felder und Lamas. Man denkt an die Frauen mit ihren weiten, mehrschichtigen Röcken und dem typischen, keck aufgesetzten Bowler-Hut. Auch die alten Städte kommen einem in den Sinn: wie Sucre, La Paz und Potosí, die allesamt in der Bergzone liegen.

Es gibt aber auch ein ganz anderes Bolivien: jenes des Tieflandes. Der grösste Teil des über eine Million Quadratkilometer grossen Landes besteht aus tropischen Ebenen. Genau hier sollte das Missio-Team den ersten Eindruck von Bolivien gewinnen, das im Zentrum unserer Kampagne im Oktober stehen wird. So wollten es unsere bolivianischen Gastgeber.

Mission in alle Richtungen

In Santa Cruz – der «Hauptstadt des Tieflandes» – werden wir von Pfarrer José Suk Sang Hee abgeholt. Er ist Fidei-Donum-Priester und stammt aus Südkorea. Acht Jahre ist Padre José schon im Apostolischen Vikariat Ñuflo de Chavez tätig. Er spricht akzentfrei Spanisch und ist hier heimisch geworden. So umarmt er beispielsweise die Leute bei der Begrüssung, wie es hier üblich, aber in Südkorea nicht einmal vorstellbar ist.

Er fährt uns auf dem Weg in seine Pfarrei zuerst durch die weitläufigen Aussenquartiere der Millionenstadt; dann vorbei an den riesigen Felder der Grossfarmen, bis wir auf längst nicht mehr asphaltierten Wegen in eine bewaldete und weit grünere Landschaft kommen. Auf der mehrstündigen Fahrt erfahren wir ebenso viel über die Kirche in Südkorea wie über das Leben im Apostolischen Vikariat. So erstreckt sich unser Gespräch bald über viele Themen der Kirche auf drei Kontinenten: Weltkirche eben.

Schliesslich liegt San Antonio de Lomerío mit seinen rund 2000 Einwohnern vor uns. Der Ort macht an diesem Nachmittag einen eher verschlafenen Eindruck. Hie und da fährt jemand mit dem Motorrad durch die Strassen. Autos gibt es nur wenige. Um den grossen Platz – ein hohes, hölzernes Kreuz steht in der Mitte – ordnen sich die einheitlichen, bunt bemalten Häuser an. Der Baustil erinnert an die Häuser in den Jesuitenmissionen. Doch San Antonio war nie ein Teil davon. Im Gegenteil, denn hier – damals im Wald – siedelten sich Menschen an, die in den Haziendas der Weissen keinen Frondienst mehr leisten wollten. Bolivien hat diese Zeit noch nicht so lange überwunden. Die Grosseltern erinnern sich noch daran.

Option für die Jugend

Begrüsst werden wir in der Pfarrei von der Jugendorganisation «Infancia y Adolescencia Misionera/IAM». Paola hat dort die Leitung – sie ist gerade mal 15 Jahre alt – und macht das souverän. Etwa 50 Kinder und Jugendliche sind da. Es werden Tänze vorgeführt. Die Kinder machen Gruppenspiele. Es herrscht eine ausgelassene Stimmung. Padre José konnte seinen Geburtstag nicht verheimlichen und erhält eine grosse Geburtstagstorte. Diese muss er nach gut bolivianischer Manier und zur Freude aller anbeissen.

Der Jugend wird ein grosser Raum gegeben. Und auch der Pfarreiratspräsident Federico Parapaino ist anwesend. Mit dabei sind eine kolumbianische Ordensfrau und der junge Vikar, der erst vor wenigen Monaten aus Südkorea eingetroffen ist. Sie machen mit, stellen sich aber nicht in den Vordergrund.

Missio Bolivien hat bewusst einen Schwerpunkt auf den Aufbau dieser Jugendorganisation gesetzt. Die Koordinatorin von Missio Bolivien, Schwester Cilenia Rojas Arispe, erklärt uns: «Auch wenn die Jugendzeit nur ein Abschnitt des Lebens ist, verleihen uns die Jugendlichen viel Kraft für unsere Bemühungen. Das ist ein grosser Reichtum! Ich bin immer wieder überrascht, wie engagiert, begeistert und mit welchem Durchhaltewillen und welcher Grosszügigkeit sie dabei sind.» Sie geht sogar etwas weiter: «Die Jugendlichen haben mich in die Infancia Misionera eingeführt und mir gezeigt, was Missio ist.»

Die IAM in Bolivien ist gut strukturiert. Für jede Altersstufe gibt es Unterlagen für die Gestaltung der Gruppenstunden. Schon Kinder ab vier Jahren können in die Gruppe «trigo verde» – grünes Korn – eintreten. Später lernen sie immer mehr Verantwortung zu übernehmen, werden Leiterinnen oder Leiter. Einige wie Paola werden schliesslich zu Koordinatoren oder Koordinatorinnen. Wo die Jugendlichen einen Platz und eine Aufgabe erhalten, machen sie auch mit.

In den Ferien sind auch die ehemaligen Leiterinnen und Leiter da, die inzwischen an den Universitäten in Santa Cruz studieren. Das weiss Padre José genau, da er dann mit ihrer Hilfe Festivals, Weihnachtsspiele, Besuche bei den alten Menschen und Vieles andere verwirklichen kann.

Begeistert von Christus

Die Option für die Jugend, wie sie in der Pfarrei San Antonio gelebt wird, soll nicht darüber hinweg täuschen, dass auch die Kirche in Bolivien mit grossen Herausforderungen konfrontiert ist. Auch hier ist es schwierig, Freiwillige zu gewinnen. Es fehlen Katechetinnen und Katecheten und anderes gut ausgebildetes Personal. Jugendliche lassen sich nicht leicht ansprechen. Doch man versucht, sie ernst zu nehmen und ihnen Raum zu geben.

Gelingt das, geben die Jugendlichen den Pfarreien mit ihrer Begeisterungsfähigkeit neues Leben, das auch den Erwachsenen gut tut. Die Jugendlichen lassen sich in ihrer spontanen Art von Christus begeistern. Das gibt ihnen Kraft, sich für die Menschen zu engagieren. So standen sie Pate für das Leitthema des Missionsmonats im Oktober: «Begeistert von Christus, engagiert für die Menschen».

Martin Brunner-Artho

Sehr geehrter Herr Bollag, viele Menschen sprechen heute von Spiritualität. Als Kapuziner kenne ich Unterschiede zwischen franziskanischer und ignatianischer Spiritualität. Hat der Begriff «Spiritualität» im Judentum eine besondere Bedeutung?

Ein jüdischer Denker hat im 20. Jahrhundert gesagt, dass Spiritualität nicht der Weg sei, aber sie kann durchaus ein Ziel sein. Man kann spirituell werden, aber die Spiritualität ist kein Ziel für den Gläubigen. Spiritualität ist nicht die Aufgabe eines jeden Juden, aber etwas für jüdische Menschen, die religiös musikalisch sind.

Was ist denn der Weg für einen Juden, wenn nicht die Spiritualität an sich?

Das Judentum spricht von Gott und damit von Handlungsnormen, die der Mensch Gott gegenüber zu erfüllen hat. Durch das Erfüllen dieser Normen wird die Gottesbeziehung aufgebaut. Der Gläubige wird gleichzeitig zu einem guten Menschen.

Bedeutet das, dass Spiritualität und Handlungsnormen unterschieden werden und somit auch unterschiedliche Wirklichkeiten betreffen?

Nein, nicht unbedingt. Im Judentum gab es stets auch fromme Gruppierungen, die sich Chassidim nennen. Chassidim kommt vom Wort «Chesed», also «Liebe». Diese Chassidim versuchten die Gottesmystik besonders intensiv zu leben.

Was bedeutet dies für den Alltag dieser Chassidim?

Die Gebote des Alltags sollen mit einer spirituellen Intensität erfüllt werden. Das verlangt grosse Konzentration und ein ausgeprägtes Bewusstsein von dem, was der einzelne im Alltag tut. Manchmal bedeutet das sogar, dass der spirituelle Mensch mehr tut, als von der Thora verlangt wird.

Worin bestehen diese spirituellen Übungen, die über das hinausgehen, was die Tora vom gläubigen Juden verlangt?

Da gibt es Reinigungsrituale und Fastenrituale, aber auch Meditationen. Solche Handlungsweisen finden sich seit der Spätantike, seit es das rabbinische Judentum gibt.

In den letzten Jahrzehnten beobachtet man bei uns ein Aufblühen von Spiritualität und spirituellem Handeln. Dies teilweise auch ausserhalb der Religionen. Hat diese Entwicklung einen Einfluss auf die jüdische Spiritualität?

Ende der siebziger Jahre, anfangs achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts haben diese Einflüsse auch vor Juden nicht Halt gemacht. In den USA hatten solche Entwicklungen in einigen Gemeinden einen Einfluss. In Europa sehe ich dieses Interesse weniger, in Israel eher wieder mehr. Ich würde meinen, dass das Aufblühen der Spiritualität der letzten Jahre im Judentum eher marginal aufgegriffen wurde.

Können und dürfen Juden auch meditieren?

Ja, es gab in der Tradition immer wieder chassidische Rabbiner, die das Meditieren empfohlen haben. Dies aber stets neben dem Pflichtgebet, eben als eine Art Zusatz zum Pflichtprogramm. Aber auch hier würde ich meinen, dass das Meditieren im Mainstream-Judentum relativ wenig bekannt ist.

Was beutet beten im Judentum? Gibt es da unterschiedliche Zugänge? Bei uns Kapuzinern wird beispielsweise vor allem auf das affektive Gebet grossen Wert gelegt. Darum steht dann die Stille im Mittelpunkt.

Das Judentum legt grossen Wert sowohl auf die Ratio, wie auch auf die Intuition, was in der jüdischen Mystik, in der Kabbala als Chochma, mit Weisheit bezeichnet wird. So können wir auf zwei Arten beten: einerseits einen Text wirklich zu verstehen versuchen, andererseits einen Zugang übers Herz suchen.

Gibt es zwischen diesen beiden Arten des Betens eine Verbindung oder stehen sie unvermittelt nebeneinander?

Da gibt es eine interessante Regel, die die beiden miteinander verbindet. Juden, die intensiv am Wort gelernt haben, sollen vor dem Beten eine Vorbereitungszeit einbauen, in der die komplexen Gedanken losgelassen werden. Also der Dreischritt lernen – loslassen – beten. Dadurch kommt man dann zu einer ganz anderen Art und Weise, Gott zu dienen. Dabei bleiben aber sowohl der intellektuelle Zugang wie auch der Herzenszugang, vielleicht eben der spirituelle Zugang. Es sind zwei notwendige Wege, um ganz in die Verbindung zu Gott zu gelangen.

Wenn ich nun an die jüdisch-christliche Begegnung denke, ist dann das Beten, der Ort, wo wir uns interreligiös begegnen könnten?

Ich würde meinen, nein! Das Beten ist nicht der zentrale Ort, wo wir uns treffen sollten. Die Begegnung von Juden und Christen sollte eben gerade auf der Ebene des Lernens stattfinden. Man soll sich kennenlernen und Themen aufarbeiten. Da gibt es noch enorm viel zu tun, damit wir die Schiene der Vergegnung (Eine Begegnung, die nicht funktioniert) verlassen können. Man kann sich gegenseitig sicher einladen und den anderen als Gast aufnehmen im Gebet. Aber zum gemeinsamen Beten braucht es noch einen äusseren Anlass, der beide betrifft und wenn ein solcher eintritt, bedarf es des vorgängigen Gesprächs über Form und Inhalt.

Interview: Adrian Müller

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Franz von Assisi entdeckt zunächst die Sendungsreden Jesu: Im Namen Jesu und mit ihm durch die Welt ziehen, um das Reich Gottes zu verwirklichen, den Armen die Frohe Botschaft verkünden – und dies in der Gesinnung der Armut.

Nichts, was der Mensch organisiert, hat ewig Bestand. Es gibt kein Haus, in dem er ewig leben könnte, keine Stabilität oder Sicherheit. Es gibt nur das Provisorium, nur das Dasein eines Pilgers. Mobilität, Unterwegssein – das sind die Schlüsselbegriffe, mit denen das Leben des Franz von Assisi zu verstehen ist.

Unterwegs

Anscheinend ist die Mobilität des Franziskus kein Modell für unsere Zeit. Heute sind die Menschen orientierungslos, auch die ethischen Werte haben keinen Bestand. Man hat die Wurzeln verloren, die Traditionen vergessen. Der moderne Mensch fühlt sich nicht wohl in seinen vier Wänden. Er ist ein Weltenbummler. Er ist immer unterwegs mit dem Auto oder mit dem Flugzeug. Alles ist flüchtig geworden, nichts dauert. Wir leben in einer Wegwerfgesellschaft, in einer Zeit der grenzenlosen Verschwendung. Wir leiden an der «Angina temporis», an der beängstigenden Enge der Zeit, einer der schlimmsten Krankheiten, die es gibt.

Ist das nicht eher die Zeit des heiligen Benedikts? Was wir brauchen, ist eine neue Stabilität, das gelebte Da-Sein, eine Burg, ein Leben ohne Druck und Stress. Wir müssen die Fähigkeit, da zu sein und an einem konkreten Ort Wurzel zu schlagen, zurückgewinnen. Dann könnten wir Wesentliches wieder entdecken: den Zusammenhalt in der Familie, die Dorf- oder Quartiergemeinschaft, die Möglichkeit, Kirche zu sein und als Schwestern und Brüder das Geheimnis des Glaubens zu feiern, den Sonntag, die grossen Feste. So könnten wir aus dem Teufelskreis aussteigen, der uns selbst und die ganze Welt zerstört.

Die Mobilität des Franziskus ist freilich nicht mit derjenigen unserer Zeit zu vergleichen. Er ging barfuss. Nichts sollte den direkten Kontakt mit der Erde hindern. Der Mensch ist ein «Erdling», aus dem Humus genommen. Rhythmus und Geschwindigkeit, die dem Menschen entsprechen, müssen durch die Erde, unsere Mutter und Schwester, bestimmt werden. Wenn man dies nicht sieht, wird man sich von der eigenen Natur entfernen, ja sich verlieren. Franziskus wollte, indem er barfuss ging, Klugheit lernen, Achtsamkeit, Empathie, Mitgefühl, Zärtlichkeit, die rechte Zeit – Eigenschaften, die bereits verloren gehen, wenn man Schuhe, Stöckelschuhe oder Stiefel trägt, sicher aber, wenn man Transportmittel benutzt. Wir müssen wieder lernen, zu Fuss zu gehen, zu flanieren, zu wandern, einen Fuss vor den andern zu setzen, um die Schönheit und das Geheimnis zu bewundern und den Gesang der Geschöpfe zu hören. Wir müssen wieder den Frieden erkunden, der uns gegeben ist und den wir allen weitergeben müssen, die ihn brauchen.

Solidarität mit den Armen

Franziskus begann sein geistliches Leben mit einer Umarmung. Er küsste einen Aussätzigen. Im gleichen Augenblick wird ihm die ganze Welt transparent: Alle Ausgestossenen werden zum Zeichen für den gekreuzigten Christus – und umgekehrt: Dieser identifiziert sich mit allen Armen dieser Welt. Franziskus muss sich auf die Seite der Armen schlagen. Er will keinerlei Privilegien haben, kein Monopol beanspruchen, keinen Vorzug erfahren, keine höhere Position einnehmen. Er will leben, was Jesus verlangt (vgl. Mk 10, 17 – 31), unter den Armen und unter den gleichen wirtschaftlichen Bedingungen.

Franziskus entdeckt die Armut als Ort, wo sich Gott offenbart. Es geht ihm auf, dass es Gottesoffenbarung ausserhalb der Lebensbedingungen der Armen nicht gibt. Dieser Aspekt der franziskanischen Spiritualität war noch nie so aktuell wie heute, in der Zeit des Neoliberalismus, der globalisierten Gleichgültigkeit und der zerbrechenden Solidarität.

Die liebende Hingabe Gottes

Franziskus sucht Gott in der Not, in der Armut  und im Elend. Er wollte mit eigenen Händen greifen und mit eigenen Augen sehen, was es bedeutet, wenn Gott im Futtertrog liegt und ans Kreuz geschlagen wird. Krippe, Kreuz und Eucharistie sind die armen Zeichen des armen Gottes.

Maurice Zundel hat in seinem zutiefst mystischen Werk gezeigt, wie sehr die Armutsauffassung des Franziskus eine neue Deutung des Gottesgeheimnisses fordert. Gott ist kein «être possessif», kein Wesen, das irgendetwas besitzt, sondern ein «être oblatif», ein Wesen, das sich hingibt. «Gott ist Gott, weil er nichts hat. Er ist alles, indem er ist, er ist alles, indem er Beziehung ist, weil er nichts hat, weil er nichts haben, nichts besitzen kann, seit Ewigkeit her alles verloren hat, wesentlich Entleerung ist, unendliche, ewige, personifizierte Entleerung. Das ist es, was Franziskus entdeckt. … Jetzt muss Schluss sein mit diesem Besitzergott, mit Gott als Meister und Despot. … Gott hat seit Ewigkeit her auf alle Macht verzichtet. Er will nichts können wollen, er will nur geben können. Es gibt nichts anderes in ihm als Liebe. Er will uns ausschliesslich mit seiner Liebe berühren, wie auch wir Gott nur mit unserer Liebe erreichen können. Das ist ein unbekannter Gott, … ein Gott, den die Christen noch nicht einmal zu kennen begonnen haben. Immer noch denken wir Gott, wie man ihn vor dem Erscheinen Christi denken konnte. Man vergisst, dass Gott sich durch das durchsichtige Menschsein Jesu offenbart. Er ist das wahre Gesicht Gottes, und das ist das Gesicht der Armut, das Gesicht der Zerbrechlichkeit.»

Kirchliche Gemeinschaft

Für Franziskus gibt es keine Alternative zur Kirche. Denn allein durch sie erreicht uns der arme Gott, nur über sie ist uns das Wort vom armen Gott überliefert, nur über sie, über die erdnahen, bescheidenen Zeichen von Brot und Wein, findet Begegnung statt mit dem menschgewordenen, zerbrechlichen Gott. Maurice Zundel: «Man musste alles ändern, alles in Frage stellen, die ganze Bibel, die ganze Tradition, die ganze Liturgie, die ganze christliche Moral, die ganze Philosophie, die ganze Erkenntnislehre, die Wissenschaft, das Eigentum, die Hierarchie. Denn alles musste von der Äusserlichkeit ins Innere verlegt, alles auf eine andere Ebene gebracht werden, auf die Ebene der Ehe und der Liebe, auf die Ebene der absoluten Freiheit.»

Schwestern und Brüder

Das Wort, das sich am besten eignet, um die menschlichen Beziehungen zu kennzeichnen, ist «Schwester/Bruder». Franziskus bezieht sich dafür auf einen Ausdruck des Apostels Petrus. In seinem Brief spricht er vom «liebenden Gehorsam». Man muss also die Ohren zu den andern hin ausstrecken, um wirklich lieben zu können. Man muss das Herz öffnen, um aufmerksam sein zu können. Man muss den Menschen zärtlich zuhören, aber auch dem Wolf, dem Baum und dem Stein. Denn alles ist vom Vatergott geschaffen, alle Geschöpfe sind eine universale Familie. Die Natur verehren ist etwas völlig anderes als Geschöpfe als seine Brüder und Schwestern achten.

Anton Rotzetter