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Paul Hinder segnet die Menschen nach der Messe
Paul Hinder segnet die Menschen nach der Messe

Ein längeres Gespräch mit Paul Hinder, Bischof von Arabien.

Der Kapuziner Paul Hinder ist seit 2003 Bischof von Arabien, einem der grössten Bistümer der Welt. Er betreut heute von Abu Dhabi aus rund eine Million Katholiken, vorwiegend Gastarbeiter aus Asien. Wir haben mit ihm während seines Heimaturlaubes im Kapuzinerkloster Schwyz ein längeres Gespräch geführt.

Bischof Paul, Sie sind seit 15 Jahren Bischof von Arabien, seit 2011 als Apostolischer Vikar zuständig für das südliche Arabien mit den Staaten Vereinigte Arabische Emirate VAE, Oman und Jemen. Arabien – das tönt für uns immer noch nach «Märchen aus 1000 und einer Nacht», doch die Realität sieht heute wohl anders aus?

Es sind zwei Welten. Auf der einen Seite der schon lange anhaltende Aufbruch in diesen Ländern aufgrund des Erdölbooms, verbunden mit zahlreichen politischen Umwälzungen. Das hat zu mehreren Mega-Millionenstädten wie etwa Dubai, Abu Dhabi, Doha in Katar, Maskat in Oman oder Riad in Saudi-Arabien geführt. Hier wird ein Lebensstandard westlichen Stils gepflegt. Und andererseits sind diese Gesellschaften noch immer stark traditionell von islamischen Stammesgesellschaften geprägt. Familienbanden sind hier enorm wichtig. Eine einheimische Elite hält, oft zahlenmässig in der Minderheit, als einzige die politische Macht in den Händen, je nach Staat mit mehr oder weniger demokratischen Elementen garniert.

Haben Sie ein Bild dafür?

Mir schwebt als Beispiel das Bild von Einheimischen vor, die mit ihren teuren Autos am Rande der Autobahnen Rast machen. Sie sitzen in ihren traditionellen Gewändern im Kreis und nehmen – wie früher die Beduinen – sitzend ihr Picknick ein.  Es lebt hier etwas weiter von der alten Beduinengesellschaft Nordafrikas und Arabiens.

Sie reden von Gegensätzen, daneben aber prägen zahlreiche andere Konflikte unser Bild von Arabien?

Die Situation ist wirklich sehr komplex. Da sind einerseits die Nachwirkungen der inner-islamischen Geschichte, aber auch der westlichen Kolonialgeschichte der letzten Jahrhunderte. Die Folge waren willkürliche Grenzziehungen in den arabischen Ländern, die praktisch nicht mehr rückgängig zu machen sind. Ich denke da an die Kurden, die heute in verschiedenen arabischen Ländern leben oder an den praktisch unlösbaren Israel-Palästina-Konflikt. Dann ist prägend die grosse inner-islamische Konkurrenz zwischen Sunniten und Schiiten, die zudem innerhalb ihrer eigenen religiösen Gemeinschaft nochmals unterschiedlichste Tendenzen aufweisen. Diese Phänomene sind ebenfalls sichtbar auf der arabischen Halbinsel. Sie bekommen zunehmend eine Virulenz, die sie früher nicht hatten.

Seit 150 Jahren stellen die Kapuziner die Bischöfe für den arabischen Raum. Warum dies?

Ganz am Anfang waren es Mitglieder des Missionsordens der Serviten, die erfolglos versuchten, in Arabien einen Neuanfang zu setzen. Ihnen folgten die Kapuziner. Das hat einerseits mit dem italienischen Kapuziner und Kardinal Guglielmo Massaia zu tun: Er missionierte in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Äthiopien, auf der anderen Seite des Roten Meeres am Horn von Afrika, über 30 Jahre. Dann liegt die arabische Halbinsel auf dem Weg nach Indien, wo es schon immer starke Kapuzinermissionen gab. Denken Sie nur an unseren Kapuzinerbischof Anastasius Hartmann, von 1846 bis 1866 Bischof von Patna. So wurde 1888 das apostolische Vikariat von Arabien errichtet. Die letzten 100 Jahre amteten als Bischöfe von Arabien immer Kapuziner aus der Toscana. Mein direkter Vorgänger war der vor kurzem verstorbene Italiener Bernardo Gremoli, er war 29 Jahre Bischof dort.

Wie reagierten Sie, als der Papst Sie mit 61 Jahren, zum Bischof ernannte?

Als ich 1994 im Generalrat des Ordens für den Nahen und Mittleren Osten zuständig wurde, warnte mich der Ordensgeneral, dass in absehbarer Zeit in Arabien ein Bischofswechsel anstehe. Ich kannte die arabische Halbinsel von regelmässigen Besuchen und sah schon bald, dass vom dortigen Klerus niemand als Bischof in Frage kam. Unser Orden hat das Vorschlagsrecht. 2002 hat der Papst die Demission von Bischof Gremoli angenommen, wir im Generalrat stellten eine Liste von drei Personen auf. Niemand sprach von mir. Die Liste kam von Rom zurück; der eine sei krank, der andere zu alt, der dritte aus anderen Gründen nicht passend. Wir mussten im Januar 2003 eine neue Liste zusammenstellen. Einer aus dem Dreiervorschlag wäre es sicher geworden, doch der Auserkorene wollte die Wahl nicht annehmen. Darum nochmals von vorne. Dann kam im März 2003 der Moment, als der Ordensgeneral zu mir kam. Er habe mich bisher «geschützt». Wenn jetzt aber mein Name genannt werde, könne er nicht mehr nein sagen. Ich ahnte – wie man in Mundart sagt –, dass jetzt «das Kalb verkauft wird». Und so kam es! Auf der nächsten Liste unseres Ordens stand der Name Paul Hinder. Ich wusste: Wenn im Informationsprozess über mich nichts Negatives zum Vorschein kam, bliebe mein Name stehen. Es ging dann aber noch ziemlich lange, bis ich im Dezember 2003 ernannt wurde. Dass es wieder ein Kapuziner war, macht Sinn: Die Mehrheit der Geistlichen in Arabien gehört dem Kapuzinerorden an, und ich hatte als ehemaliges Mitglied des Generalrates Beziehungen in den Gesamtorden hinein, was mir später viel half.

Wie lebten Sie sich als «Kultur-Fremder» dort ein?

Es war eine grosse Herausforderung. Die arabische Halbinsel war mir sehr fremd. Ich sprach zwar mehrere Sprachen fliessend, Englisch aber nur holprig. Und ich musste innerhalb eines Monats auf Englisch als Arbeitssprache umstellen. Vor Weihnachten 2003 war mir eröffnet worden, ich sei der Nachfolger von Bernardo Gremoli. Am 25. Januar 2004 landete ich in Dubai und fünf Tage später wurde ich in Abu Dabi geweiht. Die ersten 14 Monate war ich Weibischof, danach erfolgte die Ernennung zum Apostolischen Vikar von Arabien.

Die Kirche in Arabien wurde in den letzten Jahren internationaler …?

Ja, wir haben Gläubige aus über 100 Nationen, sehr viele davon Gastarbeiter aus Asien. Hier ist es von Vorteil, dass für die Seelsorge ein Orden mit internationaler Verankerung zuständig ist, damit man das nötige Personal bekommt. Zwei Drittel der Geistlichen in Arabien sind Kapuziner. Sie stammen weltweit aus 20 verschiedenen Ordensprovinzen, die Mehrheit aus Indien und den Philippinen. Unsere Geistlichen sind vorwiegend in der Pastoralarbeit engagiert, denn das religiöse Leben ist hier stark sakramental geprägt.

Sie können sich in den verschiedenen Ländern des südlichen Arabien relativ frei bewegen. Das war in Saudi-Arabien, das bis 2011 ebenfalls zu Ihrer Diözese gehörte, nicht der Fall?

Ich nenne das Beispiel der Vereinigten Arabischen Emirate. Hier hat die Kirche heute deren neun offiziell ihr zugewiesene Orte. Dort haben wir eigene Kirchen, eine ist im Bau begriffen. Innerhalb der Kirchengelände können wir uns frei bewegen und voll entfalten. Schwierig ist für uns eher die Seelsorge in abgelegenen Gebieten. Es ist aber auch dort möglich, beispielsweise einen Saal für eine Messe zu mieten. Das gleiche wie für die VAE gilt, etwas verschärft, für den Oman.

Im Gebiet des südlichen Arabien muss ich mich tatsächlich nicht verbergen. Den Kontakt mit Regierungsstellen pflege ich – gut erkennbar – im Bischofsgewand, manchmal auch im Kapuzinerhabit. Auf Reisen bin ich schlicht angezogen, aber meistens mit Priesterkragen, damit man mir meine Funktion als Geistlicher ansieht. In den Jemen bin ich früher ebenfalls gut erkennbar als Bischof gereist, nur innerhalb des Landes war ich zivil unterwegs.

Stichwort Jemen: Heute ein sehr schwieriges Land für Ihre Arbeit?

Ja, ich kann im Moment nicht nach Jemen reisen. Ich war das letzte Mal im Dezember 2014 dort. Ich habe es später ein paar Mal erneut versucht, aber es geht zurzeit nicht. Ich bin in meiner Position einfach zu exponiert. Jemen ist wirklich eine andere Welt, der Prozentsatz der Ausländer ist extrem niedrig, das war schon vor Beginn des Bürgerkriegs 1994 so. Jemen ist sehr arm, ausschliesslich muslimisch geprägt und stark bevölkert: 27 Mio. Einwohner leben dort, fast alles Araber. Das Land ist von der Kultur und Geschichte her hochinteressant. Es könnte theoretisch, in Friedenszeiten, eine beliebte touristische Destination sein.

Unsere Aktivität als Kirche beschränkte sich vor dem Krieg auf 4 Plätze: Sanaa, Aden, Taizz und Hudaida. Interessanterweise gab es in Aden sogar Kirchen aus der kolonialen Epoche. Heute sind diese Gebäude kriegsbedingt schwer beschädigt und verlassen. Bereits unter den jemenitischen Kommunisten ab Ende der 60er-Jahren wurden alle Missionare, ausser einem, und alle Schwestern ausgewiesen, die katholischen Schulen vom Staat konfisziert.

Aber es leben noch Christen dort?

Ja, noch einige wenige. Es gab einen Priester, der Inder Tom Uzhunnalil, der für die Christen und die in Aden tätigen Ordensschwestern zuständig war. Uzhunnalil wurde am 4. März 2016 von Rebellen entführt. Gleichzeitig wurden bei einem Attentat vier Mutter-Theresa-Schwestern der «Missionaries of Charity», die ein Seniorenheim in Aden leiteten, ermordet. Heute leben noch 10 Schwestern der «Missionaries of Charity» in Sanaa (Stichtag: 28.6.2018). Die Schwestern waren ursprünglich an den vier Orten tätig. Schliesslich mussten sie aus Taizz und Hudaida evakuiert und in Sanaa konzentriert werden, weil es zu gefährlich wurde.

Zu besagtem Father Tom: Anfänglich wurde befürchtet, dass er umgebracht worden sei. Dann wurde Uzhunnali 2017 überraschend freigelassen. Haben Sie dazu auch beigetragen?

Nur so viel: Ich bin nicht unschuldig an seiner Freilassung. Ich stand in Beziehung mit örtlichen Sicherheitsdiensten, es war ein langes Prozedere. Aber den genauen Ablauf kenne ich nicht, ich war nie in direktem Kontakt mit den Entführern, ich habe das bewusst vermieden. Tom Uzhunnali lebt übrigens heute in Indien und ist als Vortragsreisender unterwegs, um über seine Erfahrungen zu erzählen.

Sie waren früher, wie gesagt, auch zuständig für Saudi-Arabien. Das reiche Land wird immer wieder beschuldigt, dass es in der ganzen Welt Schulen und Einrichtungen mit wahabitischer, sprich konservativ-islamischer, Ausrichtung unterstützt.

Ihre Aussage entspricht der Realität. Zum Beispiel geschah genau das in Bosnien nach dem Krieg 1995: Damals wurden die meisten Moscheen mit saudi-arabischem Geld gesponsert und es wurde entsprechendes Personal importiert, das war in Bosnien konfliktfördernd. Wieweit der jetzige saudische Kronprinz eine Wende einleitet – darüber mache ich keine Prognose. Ich nehme Mohammed bin Salman ab, dass es ihm ernst ist mit seinen Reformbemühungen. Aber angesichts der spezifischen Situation im Land kann er gar nicht zu radikal vorwärts gehen, sonst ist er in Gefahr. Ob die kleinen moderaten Änderungen im Land, eher für das westliche Auge gedacht, für die Umgestaltung der Gesellschaft eine Langzeit-Wirkung haben, ist für mich eine offene Frage.

Saudi-Arabien ist eben ein ganz spezieller Fall: Die Monarchie des Hauses Saud lebt und überlebt nur dank der Heirat mit dem Wahabismus. Beide sind dazu verurteilt, miteinander zu koalieren. Ich glaube darum nicht, dass diese Gesellschaft sich so schnell verändern wird. Wir im Westen möchten oft alles schnell und subito haben.

Sie antworten zurückhaltend …

… mir ist schon bewusst, dass in diesen Gesellschaften – besonders unter jüngeren Menschen – ein Drang da ist nach mehr Freiheit. Da möchten die konservativen Kräfte, wenigstens im religiösen Bereich, das Szepter noch in den Händen halten. Und dies gerade, weil sich das gesellschaftliche Netzwerk in diesen Ländern ein stückweit in Auflösung befindet. Man sieht doch auch in anderen Teilen der Welt, wo die Menschen über rasante gesellschaftliche Veränderungen verunsichert sind, wachsende fundamentalistische Tendenzen. Das ist ein verständlicher Schutzmechanismus. Und diese Entwicklung zeigt sich gleichermassen auf der arabischen Halbinsel.

In Saudi-Arabien ist dieses Nebeneinander-Existieren zwischen Moderne, rasant sich entwickelnder Technik und konservativer religiöser Lebensweise besonders sichtbar. Analoges lässt sich in Asien beobachten. Die moderne Technologie löscht hier die traditionelle Religion überhaupt nicht aus. Die Asiaten sind durchaus selbstbewusst und stehen zu ihrem eigenen Weg. Da machen wir es uns als Europäer zu einfach, wenn wir meinen, die springen jetzt auf den Zug der säkularen Moderne auf, in dem wir schon längst drinsitzen.

Wie würden Sie kurz und bündig die von ihnen betreuten Länder im südlichen Arabien beschreiben?

Die Vereinigten Arabischen Emirate sind eine arabische Schweiz im Kleinen: Mit sieben Kantonen, die durchaus darauf beharren, dass sie ihre relative Selbständigkeit behalten können innerhalb der Föderation. Technologisch sind diese «Kantone» mit verschiedenen Geschwindigkeiten unterwegs, Zürich oder Genf sind ja auch nicht Altdorf oder Schwyz. In den VAE sind Dubai und Abu Dhabi die potenten Leader, die anderen hängen an ihrem Tropf. Ideologisch möchten die VAE weltoffen und technologisch Weltspitze sein. Das sieht man an ihren Ausbildungsanstrengungen: Bis 2025 wollen sie, unter Wahrung ihrer Selbständigkeit, weltweit die besten Schulen haben. Dem dient das ganze System.  Obwohl 80% der Bevölkerung Ausländer sind, geht die Macht von den 20% Einheimischen aus, respektive ihrer Elite, den Scheichs. Jeder Ausländer, auch ich als Bischof, muss meine Aufenthaltsbewilligung regelmässig erneuern. Diese Bewilligung kann ohne Begründung verweigert werden. Das ist ein starkes Machtmittel.

Im Oman sind die Bewohner mehrheitlich muslimische Ibaditen, mit einer Affinität zu den Schiiten. Oman wird seit 45 Jahren von einem Sultan regiert, der das Land sehr geschickt in die Moderne geführt hat. Das Land ist «human sized», das heisst noch überschaubar, im Unterschied zu Dubai und Abu Dhabi. In Maskat fühlt man sich von den Bauten her noch in einer menschlichen Welt, es herrscht weniger architektonischer Grössenwahn.

Jemen, eigentlich eine Republik, ist in Wirklichkeit ein nichtfunktionierender Staat, ein gespaltenes Land. Es ist unsicher, ob das Land in naher Zukunft wieder zusammenwächst. Sein grosser Nachbar Saudi-Arabien hat kein Interesse an einem prosperierenden Jemen.

Auch vom sunnitischen Saudi-Arabien habe ich schon gesprochen. Es ist auf der arabischen Halbinsel klar die Grossmacht und regional gesehen im ständigen Hahnenkampf mit dem schiitischen Iran. Interessanterweise seit einiger Zeit durchaus kooperativ mit Israel.

Zurück zu Fragen der Religion. Bischof Paul, wie gut kennen Sie eigentlich den Islam und den Koran?

Seitdem ich Bischof bin, habe ich relativ viel über den Islam aus verschieden Quellen erfahren. Ich bin aber kein Islamspezialist. Ich habe bis jetzt noch nie Zeit und Courage gehabt, den ganzen Koran zu studieren. Aber ich schau hin und wieder einzelne Suren nach. Ich habe es auch nicht mehr geschafft, das schwierige Arabisch zu lernen. Doch für meine Arbeit, die Diskussion mit meinen Mitarbeitenden, brauche ich es nicht. Darum bin ich primär auf englischsprachige Literatur angewiesen.

Und wie gut ist ihr Wissen über die islamische Rechtsordnung, die Scharia?

Mein Wissen darüber habe ich mir aus Büchern erworben. Wenn man im Westen über die Scharia spricht, denken viele ja zuerst an Hände abhacken, Steinigen oder zum Tode verurteilen. Doch das ist zu kurz gegriffen. Mit Scharia-Fragen haben wir es regelmässig zu tun, wenn es um privatrechtliche Fragen geht.

Ich nenne eine Erfahrung aus den VAE: Dieser Staat kennt kein eigentliches Zivilrecht. Politische Kreise gelangten an die katholische Kirche, ob wir bereit wären, ehe- und familienrechtliche Fragen in eigener Regie zu regeln. Ähnlich wie im Libanon, wo jede Religionsgemeinschaft ein eigenes Familien- und Erbrecht hat. Ich bin eher skeptisch eingestellt gegen eine solche Idee und zwar wegen deren praktischen Konsequenzen. So könnten wir gewisse Konflikte schlicht nicht lösen, weil wir, im Gegensatz zu den Muslimen, im katholischen Kirchenrecht beispielsweise keine Scheidung kennen. Wir könnten dann Scheidungen nicht nach katholischer Rechtssprechung vollziehen, obwohl sie für die Betroffenen in gewissen Fällen nötig wären. Dann bin ich auch dagegen, dass sich die Kirche auf erbrechtliche Fragen einlässt. Das ist eine unendliche Quelle von Konflikten, mir graust davor. Oder denken Sie an die Kinderzuweisung bei Scheidungen und Trennungen. All diese Fragen müssten wir in eigener Regie lösen, ein Ding der Unmöglichkeit. Wir müssten quasi ein katholisches Erbrecht für die VAE aufbauen, darum sagte ich: Hände weg davon. Ich bin eher der Meinung: diese arabischen Staaten müssen ein modernes ziviles Erb-, Familien- und Scheidungsrecht einführen, wie wir es in Europa kennen.

Bischof Paul, Sie haben Ihr Theologiestudium in Freiburg mit einer Dissertation über «Grundrechte in der Kirche» abgeschlossen. Religions- und Gewissensfreiheit sind seit langem fest in unserer abendländischen Kultur verankert. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 hat sie international kodifiziert. Wie reden Sie mit islamischen Gesprächspartnern über solche Menschenrechte?

Diese Gelegenheiten sind eher dünn gesät. Meine Erfahrung, etwa bei interreligiösen Dialogen, ist die, dass wir bei unseren Gesprächspartnern bei diesem Thema schnell an Grenzen stossen. Oft wird dann schnell mal die Koran-Sure 2, Vers 256, zitiert, wonach doch im Glauben kein Zwang herrsche. Doch das ist eine sehr einseitige muslimische Sicht. Unser westliches Verständnis von individueller Religionsfreiheit existiert im arabisch-islamischen Raum im Bewusstsein der Leute schlicht nicht. Es gibt vereinzelte islamische Stimmen, die Religionsfreiheit zwar differenzierter sehen. Grossmehrheitlich erachten Muslime die Menschenrechte aber nicht als universell und allgemein gültig, sondern immer der Scharia untergeordnet. Ich verweise da auf die Kairoer Erklärung der Menschenrechte von 1990, die die Scharia als alleinige Grundlage der Menschenrechte definiert.

Der Islam sieht die Welt eben anders als wir: Für ihn ist Allah, Gott, der eigentliche Regent der Welt, des Kollektivs und des Individuums. Für mich aber sind die allgemeinen Menschenrechte die Frucht eines langen Prozesses, von der Aufklärung über die französische Revolution bis zur Erklärung von 1948. Dieser Prozess ist rational nachvollziehbar und in dem Sinne universell, nicht beschränkt auf gewisse Kulturen und Religionen. Darum müssen wir als Christen in dieser Frage sehr hart bleiben, sonst werden diese Grundwerte ausgehöhlt. Es gibt starke Tendenzen in diese Richtung. Allerdings muss ich hinzufügen, dass auch in der westlichen Welt die Gefahr besteht, die Menschenrechte durch ausufernde Neuinterpretationen auszuhöhlen.

Der Wechsel zu einer anderen Religion, der Abfall vom Glauben, wird im Islam stark geächtet. Taufen sind darum wohl für Sie als Bischof absolut tabu?

Es gibt sogar islamische Länder, wo auf Apostasie, dem Abfalls vom Islam, immer noch die Todesstrafe steht. Weit verbreitet ist eine Art «familiäre Lynchjustiz», die totale Ächtung eines vom Islam abgefallenen Menschen in Familie und Verwandtschaft. Die Situation ist sehr delikat, wir lehnen darum im Bistum solche Tauf-Gesuche von Muslimen prinzipiell ab, das wäre das Ende unserer Tätigkeit.

Ich selbst habe nie einen Muslim getauft. Wenn wirklich jemand zu uns kommt mit der Bitte um Taufe, so sagen wir ihm: Gehe in ein Land, wo wirklich Religionsfreiheit im westlichen Sinne herrscht. Aber selbst dann ist es für diese Person nicht unproblematisch, je nach ihrer familiären Situation. Ich kenne den Fall von muslimischen Pakistanis, die zum Christentum konvertierten, aber von ihrer Familie sogar im Westen verfolgt werden. Sie können ihren Glauben gar nicht öffentlich leben und müssen sich quasi verstecken.

Wie sieht denn der Islam die anderen monotheistischen Hochreligionen?

Der Islam ist zutiefst überzeugt, dass er die Krone aller Religionen ist. Selbst ein Christ, der ein gutes Leben führt, ist eigentlich ein Muslim für sie. Darum, wenn ich als Christ Muslim werde, ist das nicht eine Konversion, sondern ein Zurückkommen zu dem, was ich vom Ursprung her bin.

Sie sprachen vorher von interreligiösem Dialog. Können Sie mit muslimischen Religionsgelehrten über solche Fragen diskutieren?

Das ist für mich nicht einfach, erstens bin ich nicht voll kompetent, weil ich mich nicht in ihrer Sprache, das heisst Arabisch, ausdrücken kann. Was mich ebenso schwierig dünkt: Die gleichen Begriffe haben bei uns und bei muslimischen Gelehrten eine andere Resonanz, ich denke da speziell an Religionsfreiheit. Der Resonanzboden für strittige theologische Begriffe ist geprägt vom Resonanzboden, in denen meine Gesprächspartner sich – und ich mich – bewegen. Das macht einen Dialog nicht unmöglich, aber schwer. Am ehesten sehe ich Möglichkeiten – bevor wir über so komplexe Dinge wie Dreifaltigkeit etc. reden –, dass wir uns sektoriell über gewisse Themen unterhalten, wo wir Verständigung finden können. Etwa in gesellschaftspolitischen Fragen, beispielsweise der Friedensarbeit und Konfliktverminderung. Es ist ja beileibe nicht so, dass im Koran nur Hass gepredigt wird und in der Bibel nur Frieden oder dass in jedem Muslim ein potentieller Terrorist steckt. Der Islam hat durchaus ein Potential, das er konstruktiv einbringen kann. Ich bin oft beeindruckt, mit welcher Ernsthaftigkeit Muslime leben und Gutes tun.

Ist man als Christ in den muslimischen Staaten Arabiens integriert, akzeptiert oder nur geduldet?

Ich sage mal: respektiert, manchmal sogar akzeptiert. Mir fällt immer wieder auf, dass Christen als besonders vertrauenswürdig gelten und darum für gewisse Aufgaben bevorzugt werden. So sind in nicht wenigen Fällen die Finanzverwalter von Emiren oder Scheichen Christen. Es geht hier nicht nur um das fachliche Know-how, sondern man schätzt besonders die Zuverlässigkeit und Integrität der Christen. Vor vielen Jahren erzählte mir in Bahrain ein Botschafter: Sein Vater habe ihm gesagt: «Christen sind Menschen, denen du trauen kannst.» Und ich erwiderte scherzhaft: «Hoffentlich stimmt es …»

Wie stark sind denn Ihre Kontakte zu Politikern in den Ländern des südlichen Arabiens?

Ich bin selber ja nicht im diplomatischen Dienst des Vatikans. Der apostolische Nuntius, der diese politische Aufgabe wahrnimmt, residiert in Kuwait. Ich treffe Politiker auf Empfängen oder Veranstaltungen. Wir haben in den VAE immer wieder Kontakt zu den Innen- und Aussenministerien, in Oman ist es das Ministerium für religiöse Angelegenheiten. Zu einzelnen Scheichs habe ich auf persönlicher Ebene Zugang, etwa dem jetzigen Minister für Toleranz in Abu Dhabi, Scheich Nahyan bin Mubarak Al Nahyan. Mit ihm bin ich befreundet. Auch mit den sieben verschiedenen Emiren der VAE hatte ich gelegentlich zu tun. Bei meinen Pastoralbesuchen versuche ich, mit staatlichen Vertretern des Amtes für religiöse Angelegenheiten in Kontakt zu kommen. Auch lade ich gewisse politische Autoritäten zu wichtigen Anlässen der katholischen Kirche ein, etwa zur Einweihung eines neuen Gotteshauses.

Ich möchte mit ein paar persönlichen Fragen enden. – Sie werden immer wieder in den Medien mit folgendem Satz zitiert: «Das Problem in Europa ist nicht die Stärke des Islam, sondern die Schwäche des Christentums». Haben Sie das gesagt?

Ich meine damit: Das Problem in Europa ist heute nicht die Stärke des Islams, sondern eine gewisse Unsicherheit, wer wir überhaupt sind, als Europäer und Christen. Dadurch besteht die Gefahr, dass wir ein undifferenziertes Feindbild aufbauen. Ich bin nicht naiv: Es gibt im Zusammenleben mit dem Islam wirklich reale Probleme zu lösen. Denn die Präsenz des Islams in Europa wirkt heute als Provokation und stellt einige vermeintliche Selbstverständlichkeiten in Frage, wie etwa unsere demokratischen Grundrechte. Der erstarkte Islam hat darum insofern einen heilsamen Effekt, dass er uns auf uns selbst zurückwirft und auf die Frage: «Wer sind wir eigentlich und wer wollen wir sein?»

Bischof Paul, wieso sind Sie Priester geworden?

Diese Frage wird mir oft gestellt und immer wieder habe ich Schwierigkeiten, darauf zu antworten. Ich stamme aus einer katholischen Bauernfamilie im vorwiegend reformierten Thurgau, wir waren vier Brüder. Das religiöse Klima war gut in unserer Familie, solide aber nicht übertrieben konservativ-fromm. Ich ging schon als Kind gerne in die Messe, mir machte der damalige Pfarrer Eindruck, wie er Liturgie feierte. Dann hatte ich einen Onkel, der Kapuziner-Laienbruder war und einen Bruder, der Benediktiner-Bruder wurde. Ich besuchte als Jugendlicher das katholische Gymnasium der Kapuziner in Appenzell. So war mein Weg ein Stück weit vorgespurt. Trotzdem war es für mich ein langer Prozess, bis ich in den Kapuzinerorden eintrat. Die eigentlichen Fragen und das Ringen um die Berufung kamen eigentlich erst nach dem Noviziat. Das war in den turbulenten 60er-Jahren, wo vieles radikal in Frage gestellt wurde. Als Folge traten in den 70er-Jahren viele meiner Kollegen und zum Teil gute Freunde, wieder aus dem Kapuzinerorden aus. Das war eine schwierige Zeit für mich, denn es verliessen viele den Ordens- und Priesterberuf, denen ich mich besonders verbunden fühlte.

Sie sind 75 Jahre alt geworden und haben vor 1½ Jahren beim Papst die Demission eingereicht. Seitdem herrscht Funkstille …

(lacht) Ich weiss nicht mehr als Sie, ausser dass ich einfach weiter das Bistum leiten muss, bis Rom einen Nachfolger gefunden hat. Am 30. Oktober 2017 hatte ich eine Privataudienz bei Papst Franziskus zum Thema Jemen. Bei dieser Gelegenheit sagte ich ihm: Übrigens bin ich ja 75 geworden. Franziskus hat mich bloss angeschaut und gelacht: Ich solle jetzt mal weitermachen. Seine Antwort: Es gibt Diözesen, wo die Gläubigen um den guten Tod des Bischofs beten, bevor dieser 70 ist. In anderen Diözesen beten sie um seine gute Gesundheit, bis er 80 ist.

Hat sich Ihr Glauben während ihrer Arbeit in Arabien verändert?

Nein, verändert nicht, aber vertieft, vor allem durch den Kontakt mit meinen Gläubigen und meinen Mitarbeitenden. Für mich ist es eine echte Herausforderung, wenn kulturell anders geprägte Katholizismen gelten und sich davon in Frage stellen zu lassen. Ich habe das II. Vatikanische Konzil und den Öffnungsprozess intensiv miterlebt. Wir waren lange Zeit der Meinung, was wir leben und glauben, das ist die einzig richtige Form von Katholizismus. Das birgt natürlich die Gefahr, in eine eigene Art des Dogmatismus zu verfallen. Darum war die Erfahrung einer multikulturellen Kirche in Arabien für mich ein eigentlicher Augenöffner. Auch wie die Gläubigen dort genau auf mich und meinen Lebenswandel schauen. Die Erfahrung hat mich demütig gemacht, dass ich als Bischof für sie eine Stärkung und Unterstützung bin. Etwa wenn Gläubige zu mir sagten: «Sie sind für mich wichtig als Halt. Danke, dass Sie mit uns auf dem Weg sind.»

Bischof Paul Hinder, herzlichen Dank für dieses Gespräch.


Facts & Figures

Paul Hinder (1942) wuchs in einer katholischen Bauernfamilie mit drei Brüdern im Thurgau auf und trat 1962 dem Kapuzinerorden bei. Er wurde 1989 Provinzial der Schweizer Kapuziner, 1994 wurde er in den Generalrat des Kapuzinerordens gewählt, das weltweit höchste Gremium des Ordens. Paul Hinder war dort unter anderem zuständig für die Kapuziner des Nahen Ostens. 2004 wurde er in Abu Dhabi zum Weihbischof, 2005 zum Apostolischen Vikar von Arabien ernannt. 2011 wurden Bahrain, Katar und Saudi-Arabien dem damaligen Vikariat von Kuwait zugeschlagen. Seither gibt es in Arabien ein südliches (Jemen, Oman und Vereinigte Arabische Emirate) und ein nördliches Vikariat (Katar, Bahrain und Saudi-Arabien).