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Luigi Pedrocchi, Chef der Migros-Tochter Mibelle, hat sich schon immer mit ökologischen Fragen auseinandergesetzt. 
© Luigi Pedrocchi
Luigi Pedrocchi, Chef der Migros-Tochter Mibelle, hat sich schon immer mit ökologischen Fragen auseinandergesetzt. © Luigi Pedrocchi

Seit rund 20 Jahren führt Dr. Luigi Pedrocchi die Mibelle Group, eine Gruppe von Unternehmen mit Fokus auf Kosmetika, Hygiene und Gesundheit im Besitz von Migros. Er ist ETH-Maschinenbauingenieur und hat später noch Theologie studiert.

Luigi Pedrocchi, wie schätzen Sie selber die Situation unserer Welt und des Ökosystems ein?
Beim Sprechen über Nachhaltigkeit ist der ökologische nur einer der zu behandelnden Aspekte: Diese Nachhaltigkeit spricht die zentrale Frage der Veränderung unseres Lebensraumes an. Etwa der erhöhte CO2-Ausstoss, der Umgang mit schwindenden Rohstoffen – vor ein paar Jahren sprachen wir auch von den Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW in Kühlschränken) oder dem Waldsterben. Es handelt sich hier um eine breite Palette von Veränderungen. Doch wir müssen bei der Diskussion über Nachhaltigkeit noch andere Aspekte berücksichtigen: Etwa die wichtige Frage, wie wir als Menschen miteinander oder wie wir mit unserer Technologie umgehen. Nachhaltigkeit ist mehr als nur Ökologie. Das macht die Diskussion viel anspruchsvoller, weil wir es bei der Untersuchung, ob ein Verhalten nachhaltig ist, mit sehr vielen Parametern (Einflussfaktoren auf ein System, die Red.) zu tun haben. Allerdings, wenn man nur die Ökologie anschaut, können wir nicht behaupten, es gehe unserer Welt gut.

Wo brennt es denn heute am meisten?
Ich halte nicht mal die rein ökologische Frage als das grösste Problem, die ökologischen Probleme heute sind nur die Folge von etwas anderem. Es geht mir um die Einstellung des Menschen, um die Frage: Wie gehen wir als Menschen mit Bedrohungssituationen um? Der Mensch will häufig nicht wahrhaben, dass er sich in einer kritischen Lage befindet und sich deshalb im Verhalten verändern muss, er schaut den Tatsachen nicht in die Augen. Das ist wohl heute die grösste Herausforderung. Der Mensch baut sich häufig – aus philosophisch-konstruktivistischer Sicht betrachtet – eine eigene Realität auf und hört zu wenig auf die Fakten.

Immer mehr Menschen sind nicht mehr zugänglich für wissenschaftliche Argumente und Fakten, siehe etwa die US-Präsidentenwahlen oder die Diskussion um die Corona-Impfung. Sie hangen Mythen an und vermischen Naturwissenschaft und Glaube. Mir fiel das extrem bei den Anhängern von Trump auf, die auf Fakten kaum mehr ansprechbar sind und ihm wie einem Heilsbringer folgen. Alle seine nachweisbaren Falschaussagen und Lügen werden von ihnen wie ausgeklammert. Zugegebenerweise wird es auch immer anspruchsvoller, aus der allgemeinen Kakophonie sich widersprechender Experten die Fakten sauber herauszuschälen.

Wie stark sind Sie, Luigi Pedrocchi, in Ihrem Berufsalltag mit Fragen der Nachhaltigkeit konfrontiert?
Zum Thema Nachhaltigkeit gibt es zwei Grundhaltungen: Einerseits eine regressiv-defensive Haltung. Diese betrachtet Nachhaltigkeit ausschliesslich im Sinne einer Risikoreduzierung oder Risikovermeidung. Es geht etwa um das Risiko, Kapital zu verlieren, das Image der eigenen Firma zu beschädigen oder die eigene Geschäftsgrundlage zu gefährden. Man will auch vermeiden, mit bestehenden Gesetzen in Konflikt zu kommen. Aus dieser regressiven Haltung heraus tue ich alles, um diese Risiken für meine Firma zu reduzieren. Viele Nachhaltigkeitsaktivitäten von Firmen sind so getrieben: Den Gesetzen entsprechen, ein gutes Image fördern und Schaden fürs Unternehmen abwenden.

Und die andere Seite …?
Es ist – ich nenn es mal so – die progressiv-missionarische Seite: Ich fühle eine Mission in mir, ich will mit meinen Handlungen die Welt verbessern. Ich denke beispielsweise, dass Greta Thunberg sehr stark von missionarischen Motiven getrieben ist.

Aber es gibt ja zahlreiche nüchterne, wissenschaftliche Stimmen, die sich für mehr Nachhaltigkeit einsetzen, und bei denen man nicht behaupten kann, sie seien bloss von missionarischen Motiven getrieben?
Ja das stimmt, wobei ich nicht «bloss» sagen würde. Das sind Menschen, die präzise naturwissenschaftlich arbeiten. Aber ihre nüchternen Erkenntnisse – ich habe es vorhin mit Sicht auf die USA betont – sind für viele Menschen nicht mehr zugänglich. Diese Menschen hören zwar die Fakten, aber ziehen für sich daraus nicht mehr die richtigen Schlüsse.

Sie als CEO von Mibelle werden wohl eher von einer regressiv-defensiven denn missionarischen Haltung getrieben, würde ich jetzt mal vorschnell vermuten?
Das stimmt so nicht. Klar, ich soll als CEO die Geschäftsgrundlage meiner Firma nicht beschädigen, aber meine Haltung geht darüber hinaus. Ich bin mehr als nur der ausführende, rein betriebswirtschaftlich denkende Manager einer Firma, ich bin unter anderem auch Vater von fünf (erwachsenen) Kindern, die auch ein Anrecht auf eine intakte Welt haben und denen ich nicht untragbare Hypotheken unseres heutigen Handelns übertragen möchte. Ich mache mir täglich Gedanken zur Verbesserung der Nachhaltigkeit meines Unternehmens. Dazu gehören selbstverständlich auch alle Massnahmen, die sicherstellen, dass es uns als Unternehmen auch noch in fünf oder zehn Jahren gibt. Aber ich sehe mich nicht als Vorzeigebeispiel, sondern ich bin ein Suchender geblieben, und ich lebe halt mit vielen, sogenannt ‹faulen›, Kompromissen.

Haben Sie denn, Luigi Pedrocchi, überhaupt eine «missionarische Seite»?
Zentral für mich ist die Verwurzelung im christlichen Glauben. Nehmen Sie das Markusevangelium, ganz konkret die Auferweckungserzählung im 16. Kapitel. Diese Erzählung verläuft bei Markus anders als bei den anderen drei Evangelisten. Das Wesentliche: Jesus erscheint bei Markus nach seiner Auferweckung den Jüngern nicht mehr. Man hört den Engel, der etwas sagt und die Jüngerinnen, die damit konfrontiert werden. Der Markus-Urtext beschreibt keine Begegnung mehr mit dem Auferweckten. Das Allerwichtigste aber ist die Aussage des Engels am Grab. «Kehrt zurück nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat.» (Mk16,7) Galiläa ist jener Ort, wo die allermeisten Jünger herkamen, ihre Heimat, ihr Alltag, ihre Herkunft, ihr Beruf, ihre Familie. Das ist – für mich persönlich – der zentrale Auftrag für einen Christen: Es geht darum, in seinem täglichen Leben, im Beruf, dort, wo man wohnt, am Reiche Gottes mitzuarbeiten. Und das ist nicht irgendwo auf der Welt oder irgendwann in der Zukunft, sondern hier und jetzt; in meinem Büro kann und will ich am Reiche Gottes mitarbeiten. Dazu gehören halt auch Kompromisse oder Irrwege. Andererseits kann ich eventuell in einem Gespräch mit einem Mitarbeitenden, indem ich sie oder ihn anhöre und ernst nehme, nur in fünf Minuten etwas mitgeben, das viel auslöst.

Zurück zur Frage: Was heisst für Sie konkret in ihrem Arbeitsalltag nachhaltiges Wirtschaften?
Kurz: Ich will sicherstellen, dass es uns als Firma auch in zehn Jahren noch gibt. Rein betriebswirtschaftlich betrachtet ist es nicht das Ziel eines Unternehmens, Leute zu beschäftigen. Das ist die soziale Seite unternehmerischen Handelns. Unser Hauptziel ist es, auf die Bedürfnisse der Konsumenten und Konsumentinnen Antworten zu finden. Nachhaltigkeit, ich wiederhole mich, heisst für mich in erster Linie, dass wir uns so «aufstellen», dass es uns auch später noch gibt. Dass das, was wir produzieren, einem Bedürfnis entspricht, dass wir einen Mehrwert, einen Nutzen für Konsumenten erzeugen.

Wo bleibt bei dieser Betrachtung denn das Ziel, den Verschleiss natürlicher Ressourcen zu mindern?
Natürlich hat es auch damit zu tun. Wenn man das Hauptziel herunterbricht, wenn man sagt, wir wollen, dass es uns in zehn Jahren noch gibt, dann müssen wir doch schauen, wie sieht die Situation in zehn Jahren aus, wie steht es um die Rohstoffe und ihre Verknappung, wie um den Energieverbrauch bei der Produktion? Und wie gehen wir dann als Unternehmen damit um? Wie bauen wir unsere Lieferkette auf und um, damit diese Rohstoffe auch noch in zehn Jahren zur Verfügung zu haben? Gibt es Alternativen zu diesen versiegenden Rohstoffen?

Ich nehme das Beispiel einer Schokoladenfirma: Unter Umständen muss sie sich so weit zurück integrieren, dass sie einen direkten Kontakt zu Kakaobauern aufbaut und den Rohstoff nicht über Handelsfirmen beschafft. Dass sie den Kakaobauern zu nachhaltigerem Anbau verhilft, damit deren Felder auch noch in zehn Jahren Kakaobohnen liefern. Ähnliches gilt für unser Unternehmen, ich denke hier an das Beispiel PET (Polyaethylen): In letzter Zeit fehlt uns zunehmend das Granulat zur PET-Flaschen-Herstellung. Unsere Lieferanten erhalten nur noch erschwert dieses Rohmaterial. Die Mutterfirma Migros nimmt ja enorm viele gebrauchte PET-Flaschen zurück, wir sind schweizweit die grössten PET-Recycler. Wir sitzen damit wieder auf einem Rohstoff. Den kann man zwar wieder neuen PET-Flaschen beimischen, aber nicht zu 100%. Wir verhandeln nun also mit unseren Verpackungslieferanten nach der Devise: Wir nehmen euch so und so viele neue PET-Flaschen ab, aber ihr müsst dafür von uns so und so viel PET-Rohstoff zurücknehmen.

Macht die Mibelle nur gerade das, was man muss – im Sinne von regressiv-reaktiven Handeln – oder geht es darüber hinaus?
Wir machen so viel, wie wir redlich glauben, was nötig ist, damit es uns in zehn Jahren noch gibt. Das kann ich bestätigen. Aber ob es dann wirklich dereinst reicht, das steht auf einem anderen Blatt. Wir machen immer wieder Zwischenhalt und schauen, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Aber angenommen, ein Rohstoff geht uns vorher aus, oder der Konsument ändert sein Verhalten, was dann? Hier müssen wir Szenarien entwickeln, einen Plan auszuarbeiten, der vielleicht gar nie umgesetzt wird. Der Plan muss nur gezückt werden, wenn etwas so oder so passiert. – Auch dazu ein Beispiel: Wir spüren schon seit langem, dass die Diskussion um die CO2-Reduktion immer virulenter geführt wird. Darum haben wir uns schon länger überlegt, wie wir als Fabrik CO2-neutral werden könnten. Wir haben darum seit Jahren immer wieder diesbezügliche Investitionen getätigt, und heute dürfen wir sagen: Wir sind am Produktionsstandort Buchs (AG) CO2-neutral. Wir holen sehr viel Wärme aus dem Boden, mittels Erdsonden und Grundwasser. Wir sind zudem an einen Wärmeverbund einer Kehrrichtverbrennungsanlage angeschlossen.

Ist denn inskünftig ein ressourcenverschleissendes Wirtschaften und Leben überhaupt noch möglich?  Müssten wir nicht vielmehr unseren Konsum zurückfahren?
Rein nüchtern physikalisch betrachtet, müssen wir sagen: Ja, durch unser Wirtschaften verschleissen wir viel Energie und Ressourcen. Solange wir aber den Menschen sagen, es geht nur durch Verzichten, haben wir ein Problem in ihren Köpfen. Denn niemand will einfach verzichten. Die Gleichung «Mehr Konsum bringt mehr Glück» ist tief im Denken von uns Menschen verankert. Und solange man bloss mit Verzichtsappellen kommt – «Fahre weniger Auto, fliege weniger, konsumiere weniger usw.» – solange werden sich die Menschen dagegen wehren. Wie ich bereits am Anfang des Gesprächs sagte: Das Hauptproblem heute ist die Wahrnehmung der Realität. Die Menschen haben derart viele Wahrnehmungsfilter eingebaut, dass sie nicht mehr den Fakten glauben. Darum haben wir heute ja grosse Diskussionen darüber, was ein Faktum ist.

Wenn der Verzichtsappell nichts bringt, wie sollen dann die Menschen zur Verhaltensänderung gebracht werden?
Wenn wir wirklich – freiwillig und aus Überzeugung – den Verschleiss zurückfahren wollen, dann müssen wir das positiv formulieren. Wir müssen den Menschen aufzeigen, dass dieser enorme Ressourcenverschleiss für sie eigentlich belastend ist. Wir müssen ihnen zeigen, was es bedeutet, wenn sie derart abhängig sind, zu konsumieren. Und das hat noch gar nichts mit den grossen ökologischen Zusammenhängen zu tun, etwa dem Schmelzen des Eises an den Polen oder der Klimaerwärmung.

Luigi Pedrocchi, woher kommt eigentlich Ihr starkes Interesse an Nachhaltigkeit? Wenn ich mir Ihre berufliche Karriere anschaue – zuerst naturwissenschaftliches ETH-Studium, dann diverse betriebswirtschaftliche Ausbildungen, zuletzt Theologie – so habe ich den Eindruck: Zuerst wollten Sie die Welt analytisch-wissenschaftlich verstehen, dann die Wirtschaft betriebswirtschaftlich analysieren und schliesslich kamen Sie zu ethisch-moralischen Fragen?
Das mag auf den ersten Blick so scheinen, aber mein Werdegang ist nicht derart sequentiell aufgebaut. Ich habe ja Matura Typus A mit Latein und Griechisch gemacht. Das Gymnasium konfrontierte mich mit der historischen, religiösen, politisch-gesellschaftlichen und natürlich philosophischen Welt der alten Griechen. Auch das Christentum ist ja stark von der griechischen Philosophie durchtränkt. Solche Themen haben mich darum bereits als Jugendlicher sehr beschäftigt und religiös-philosophische Fragen waren für mich immer präsent. Leider kann man in der Schweiz nicht gleichzeitig Maschineningenieur und Philosophie studieren. Darum habe ich eines nach dem anderen gemacht. Hinter beiden Studien stand meine Neugierde am Funktionieren der Welt. Ob das nun eine Maschine ist, ein chemisches Verfahren oder die Frage, was den Menschen oder die Gesellschaft prägt, das spielt eigentlich keine Rolle.

Wichtig ist auch: Ich wurde katholisch sozialisiert, habe mich schon ganz jung als Präsident im Pfarreirat von Höngg engagiert. Das war in der Zeit einer Pfarrvakanz, wo wir selber schauen mussten, wie wir aktiv das Pfarreileben mit Gottesdiensten organisieren. Das hat mich sehr geprägt.

Aber warum haben Sie zuerst Maschineningenieur studiert?
Ich war geprägt von meinem Vater, der Bauingenieur studiert hatte und als Swissairpilot arbeitete, und dann natürlich war da meine Freude an der Technik. Die betriebswirtschaftlichen Ausbildungen habe ich später vor allem wegen meiner beruflichen Aufgaben in der Industrie gemacht.

Das Thema Philosophie-Theologie war allerdings bei mir immer latent vorhanden. Schon während meines ETH-Studiums habe ich mich mit den Schriften von Hans Küng und Karl Rahner auseinandergesetzt, insbesondere Jürgen Drewermann hat es mir etwas später angetan. Im Alter von vierzig Jahren wuchs in mir das Bedürfnis, theologische Themen systematischer anzugehen und ich absolvierte den Studiengang Theologie am theologisch-pastoralen Bildungsinstitut. Ich konnte und kann dank dieses lehrreichen Studiums viele Quervergleiche zu den übrigen Arbeits- und Lebensbereichen machen. Auch heute noch hilft mir das Theologiestudium im Berufsalltag, z.B. bei ethisch-moralischen Fragen oder dabei, eine Sache und die Welt differenzierter unter ganz verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.

Sie können die Welt aus mehreren Blickwinkeln betrachten, doch überwiegt im Spannungsfeld Ethik-Ökologie-Ökonomie am Schluss nicht der betriebswirtschaftliche Zwang?
Klar ist man als Führungskraft permanent in einem Spannungs- und Konfliktfeld. Allerdings ist das doch einer der Grundsätze des menschlichen Daseins an sich. Wir sind alle und immer in solchen Spannungsfeldern, Konflikte gibt es einfach immer. Die Welt funktioniert halt nicht so einfach, dass es immer ein Richtig oder Falsch gibt und man sich klar für etwas entscheiden kann. Dann wären viele ethische Auseinandersetzungen gar nicht nötig. Die zentrale Frage ist nur: Wie gehe ich mit diesen Konflikten um? Auf mich bezogen: Mein «Galiläa» ist hier in meiner Tätigkeit in der Wirtschaft. Und das bedeutet: Ich bin hier und jetzt Konflikten ausgesetzt. Und wie ich im Einzelfall entscheide, das ist meine Aufgabe als Mensch. Und gleichzeitig führt das immer wieder – das muss ich ehrlich eingestehen – zu Kompromissen. Als Schweizer pflegen wir ziemlich erfolgreich eine Kultur des Kompromisses. Dabei werden die verschiedenen Sichtweisen differenziert betrachtet und eine für die Mehrheit noch gangbare Lösung gesucht. Es stellt sich mir aber gelegentlich die Frage, ob der Übergang zwischen Kompromiss und mutloser Entscheidung fliessender ist.

Gibt es denn auch mal Situationen in Ihrem Berufsleben, wo Sie ethische Aspekte höher gewichten als betriebswirtschaftliche?
Ja, vor solchen Fragen stehe ich als CEO von Mibelle häufig. Wir haben sehr viele interne Vorgaben, beispielsweise bei der Auswahl der Lieferanten oder beim Aufbau neuer Geschäftsaktivitäten. Ich habe immer wieder Anfragen, bei denen ich schnell merke, da stimmt was nicht, und Stopp sage.

Ethische Fragen können sich aber überall im Geschäftsalltag stellen: Beispielsweise bei einem respektlosen Vorgesetzten, der seine Mitarbeiter drangsaliert. Wie gehe ich jetzt mit einer solchen Person um? Bis zu welchem Grad bin ich bereit, ihr Verhalten zu akzeptieren, wenn sie ansonsten einen tadellosen Leistungsausweis hat?

Können denn die Konsumenten die Wirtschaft dazu bringen, Ihre Produktion oder die Zusammensetzung Ihrer Produkte zu ändern?
Man muss natürlich differenzieren zwischen dem, was der Konsument sagt und wünscht und dem, was er macht. Konsumenten sagen heute schnell mal: Ich will nachhaltige Produkte und Rückverfolgbarkeit. Aber wenn man dann in der Migros schaut, was nach der Kasse auf dem Band liegt, sieht es anders aus. Dann dominiert gelegentlich der günstigere Preis. Wenn man die Kunden daraufhin anspricht, dann hört man: Ich muss halt mit 6000 Franken im Monat eine vierköpfige Familie durchbringen. Dabei gehen 1000 Franken für Krankenkassenprämie weg, 2000 für die Mietwohnung, mit 3000 Franken bleibt mir nicht mehr viel.

Noch ein anderes Beispiel: Ich war 8 Jahre lang Präsident der Fürsorgebehörde unserer Gemeinde. Als solcher musste ich mich mit Menschen unter oder knapp über Existenzminimum auseinandersetzen. So sah ich in einer äusserlich stabilen Gemeinde ganz tief in die Familien mit ihren Problemen hinein. Ich habe einigen überschuldeten Familien geholfen, aus dieser Schuldenfalle herauszukommen. Aber dort fiel mir auch auf, dass heute die Ansprüche in unserer Gesellschaft schon sehr hoch sind. Ferien auf Mallorca werden quasi zu einem Menschenrecht. Ich verstehe, dass es einem Familienvater weh tut, wenn seine Kinder von andern gehänselt werden, weil sie «nur» zu Hause Ferien machten. Damit bin ich wieder beim Thema Verzicht. Ist dieser Verzicht einfach nur negativ, oder kann er nicht auch positiv gesehen werden: Als Entlastung von Ballast, der eigentlich nicht wichtig ist.

Ich komme damit auf Ihre Frage zurück: Kann der Konsument steuernd eingreifen? Definitiv Ja. Wir starten, wenn wir bei Mibelle neue Produkte entwickeln, immer beim Konsumenten. Und natürlich haben wir dabei eine ganze Liste von Rohstoffen, bei denen wir Herkunft und Nachhaltigkeit der Herstellung genau anschauen.

Ich komme nochmals auf das Thema Glaube und Ethik zurück. So wie ich Sie, Luigi Pedrocchi, verstehe, ist klar: Glaube ist nicht nur eine individuell-religiöse Praxis, man darf sich als Gläubiger auch einmischen in Politik und Wirtschaft?
Ich spreche jetzt konkret von der Kirche. Eine solche Institution hat bezüglich der Politik eigentlich zwei Aufgaben. Einerseits die Menschen oder die eigenen Gläubigen zu befähigen, sich mit ethisch-sozialen Themen kompetent auseinanderzusetzen. Und andererseits soll die Kirche sich äussern können: Aus unserer Perspektive, unserem Glauben und unserer gemeinsam geteilten Überzeugung heraus beurteilen wir ein Sachthema wie Nachhaltigkeit, soziales Unternehmertum usw. so oder so. Es ist also eine zweigleisige Aufgabe, die die Kirche hat: Einerseits mache ich aus den Gläubigen entscheidungsfähige und verantwortungsbewusste Personen mit einem ethischen Kompass und andererseits nehme ich als Gemeinschaft mit eigenen Normen und Werten, Stellung zu politischen, sozialen und wirtschaftlichen Fragen. Dabei müssen wir akzeptieren, dass das Resultat mitunter auch uneinheitlich und kontrovers daherkommt.

In einem Interview mit der Paulus-Akademie bedauern Sie den Verlust der Kirche als moralische Instanz. Andererseits fordern Sie mehr ethische Bildung für Führungskräfte in der Wirtschaft. Wer soll diese Aufgabe in Zukunft leisten, wo der Einfluss der Kirchen als ethisch-moralische Instanz kaum mehr da ist?
… (zögert). Ich gebe zu, ich sehe im Moment auch keine Institution, die diesen Platz einnehmen kann und die diese Glaubwürdigkeit auch aufweist. Überall tauchen neue «Gurus» auf, auch in der Politik, aber insgesamt fehlt in unserer heutigen Gesellschaft eine gewissensbildende Institution. Anders sehe ich das bei Einzelpersonen. Da gibt es schon Menschen, denen ich sehr hohe ethisch-moralische Kompetenz zumute.

Die Versuchung liegt nahe, die Schule auch für Ethik und Moral verantwortlich zu machen. Ich glaube aber nicht, dass das eine gute Idee ist. Vielleicht geht es einfach darum, dass wir als Einzelpersonen mehr Zivilcourage entwickeln und die Richtigkeit einer Entscheidung unter dem ethisch-moralischen Gesichtspunkt immer wieder thematisieren. Es wäre dann ein Learning by doing. Ich möchte nochmals betonen: Es geht mir nicht darum, dass man jede Frage im Voraus schon klar mit Ja oder Nein beantworten kann. Es geht darum, dass jeder Mensch befähigt wird, sich solche Gedanken selber zu machen.

Wird die Coronakrise die Gesellschaft und Wirtschaft in Richtung nachhaltigerem Wirtschaften und Leben verändert? Oder hofft man nicht einfach, dass Corona an uns vorübergeht und man nachher wieder weitermachen und wirtschaften kann wie vorher?
Ich glaube, dass diese Krise mehr bleibende Veränderungen hinterlässt, als uns im Moment bewusst ist. Etwa bezüglich Digitalisierung und Kommunikationsmittel: Da wurde in einer Woche – nämlich im Lockdown im letzten Frühling – die Entwicklung von fünf Jahren übersprungen. Ich selber habe die Erfahrung gemacht, dass wir auch mit digitalen Medien, mit Homeoffice und Videositzungen, sehr gut und effizient arbeiten können. Dieser Technologieschub findet statt, hat natürlich aber, wie immer in der Geschichte der Menschheit, auch seine Gegner. Und hinsichtlich unseres Kerngeschäftes ist mir auch klar: Der Konsument wird vom Online-Geschäft nicht wieder weggehen. Das wird grosse Konsequenzen haben für die Grossverteiler. Es geht nicht um eine Einbusse von der Hälfte des Ladenumsatzes, die ins Online-Geschäft abwandert, es reichen 10-15%. Dann sind solche bisherige Geschäftsmodelle nicht mehr betriebswirtschaftlich sinnvoll zu führen.

Wie sieht denn in 50 Jahren unsere Welt aus? Existiert sie noch? Kippt das Ökosystem nicht vorher?
Es gibt die Erde noch, doch ich glaube, es wird sich einiges geändert haben, vieles auch von dem, wovon wir heute noch behaupten, es sei nicht möglich. In der Rückschau wird man aber eingestehen, dass dieser Prozess nicht schmerzfrei ausgegangen ist. Ich kann mir gut vorstellen, dass es im Ökosystem zu Kippbewegungen kommt. Aber ich glaube nicht, dass alles zusammenkracht. Es wird kein schwarzes Loch geben. Es gibt sicher starke Verwerfungen, die weh tun und zu Spaltungen in der Gesellschaft führen, aber die Welt wird weitergehen. Wir dachten bisher, unser System ist sehr widerstandsfähig und robust, das wird derzeit durch die Coronakrise sehr in Frage gestellt. Doch ich finde das gar nicht schlecht: Wir erleben die Verletzbarkeit unserer Gesellschaft, wie der Natur, jetzt Eins zu Eins hautnah. Im Gegensatz etwa zum Abschmelzen der Pole, darüber werden wir nur im Fernsehen informiert, das ist weit weg. Vielleicht ist das Erleben von Krisen prägender und nachhaltiger als das Konsumieren von Informationen, die wir sowieso nicht wahrhaben wollen.

Luigi Pedrocchi, herzlichen Dank für das Gespräch.

Interview Beat Baumgartner