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Fra martino im Einsatz © Samuele Degli Antoni
Fra martino im Einsatz © Samuele Degli Antoni

Ist es in der reichen Schweiz noch möglich, seine eigene Existenz in einer Art und Weise zu gestalten und so ähnlich zu leben wie diejenigen Menschen, die in sozialer und wirtschaftlicher Unsicherheit und auch oft auf der Strasse leben? Der Tessiner Kapuziner Martino Dotta, der seit Jahren mit den bedürftigsten Menschen in unserem Land zusammenarbeitet, macht sich dazu Gedanken.

«Tue für den anderen das, was du möchtest, dass man dir tut», das ist die positive Formulierung der sogenannten «goldenen Regel». Sie ist in vielen religiösen und kulturellen Traditionen präsent. In den Evangelien ist dieses Motto anders gefärbt als im Alten Testament. Mit einem signifikanten Schwerpunktwechsel möchte Jesus auf die Notwendigkeit hinweisen, einen entscheidenden Sprung in ethischer und geistlicher Qualität zu machen. Es geht nicht nur darum, bestimmte Verhaltensweisen zu vermeiden, die für den Nächsten schädlich sein können, sondern auch darum, proaktive Gesten zu machen.

Als christliche Gläubige sind wir aufgerufen, von einer passiven zu einer aktiven Haltung überzugehen. Es ist notwendig, Gutes zu tun, d.h. Gerechtigkeit und Glück für alle zu fördern. Wir müssen den ethischen Minimalismus überwinden, wo nur noch die Vernunft in einer Gesellschaft herrschen. Früher oder später erweist er sich als schädlich und gefährlich, sowohl kollektiv als auch individuell. Dies betrifft vor allem Menschen, die bereits am unteren Ende der Sozialpolitik stehen, wie Arbeitslose, Empfänger von öffentlichen Leistungen oder Ausländer.

Positive Option Jesus ist massgebend
So radikal es auch erscheinen mag, in meinem bescheidenen sozialen Begleitdienst im Kanton Tessin habe ich verstanden, dass die positive Option Jesu uns antreibt, unseren Horizont zu erweitern. Es verpflichtet uns, die Realität, die uns umgibt, genauer zu betrachten. Manchmal geht es einfach darum, den Kopf zu heben und den Blick des Nachbarn oder des Passanten zu kreuzen, der neben uns geht. Jeder von uns muss in der Lage sein, seine Verantwortung zu übernehmen, gerade angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten.

Das ist es, was Jesus Christus mit seinem Beispiel des Lebens und seiner Lehre vorschlägt: Das ist beunruhigend für alle Gutgläubigen jeder Zeit, ob religiös oder nicht, und skandalös für Menschen jeden Alters! War nicht die berühmte und umstrittene «Option für die Armen» der lateinamerikanischen Kirchen der Siebziger- und Achtzigerjahre als Versuch gedacht, den Weg zur wahren Freiheit, den Jesus zuerst in Richtung Jerusalem gegangen ist, zu konkretisieren?

Christentum – ein Weg unter dem Zeichen des Kreuzes
Ich bin überzeugt: Das Christentum ist kein bequemer Spaziergang ist – und war es noch nie. Es ist auch kein einfacher Weg, der mit Erfolgen und Anerkennungen bedeckt ist. Ob es uns gefällt oder nicht; es ist ein Weg, der immer unter dem Zeichen des Kreuzes steht. Das Kreuz bleibt ein Zeichen des Widerspruchs für diejenigen, die es auch in der Schweiz schwer haben, über die Runden zu kommen!

Mit Einfachheit und Ehrlichkeit einzustehen für die weniger Glücklichen, die Ausgeschlossenen oder sogar die Selbstausgeschlossenen der heutigen Gesellschaft, bedeutet, das Risiko von Missverständnissen einzugehen. Immer und überall auf der Seite derjenigen zu stehen, die niemanden haben, der sie verteidigt und unterstützt, erhöht den eigenen Popularitätsindex sicher nicht. Es ist jedoch die wesentliche Intuition aller religiösen Bewegungen, einschliesslich der Orden und Kongregationen, die den Schwerpunkt auf die Ärmsten gelegt haben. Es ist eine direkte Folge des Evangeliums, wenn es ernst genommen wird.

Finanzielle Unsicherheiten nehmen zu
Wir wissen, Taten sind notwendig, aber es ist nicht immer genug. Die neuen Formen der Armut in der Schweiz beschwören eine teilweise schwer greifbare Realität herauf. Jüngste Untersuchungen zum Lebensstandard in der Schweiz zeigen, dass es eine Gemeinsamkeit gibt, die Fragen aufwirft: Die finanzielle Unsicherheit nimmt für immer mehr Menschen und Haushalte zu. Die Mobilität der Bevölkerung und der Arbeit sind zwei der wichtigsten Faktoren, die hervorgehoben wurden. Obwohl es sich nicht um neue soziale Phänomene an sich handelt, sind sie auch Ursache für die Zunahme der wirtschaftlichen Probleme aufgrund der Überschuldung und aufgrund nicht ausreichender Löhne.

Ökonomen neigen dazu, strukturelle Ursachen und Auswirkungen in einer zunehmend globalen und komplexen Realität als Ursache zu identifizieren. Sie registrieren eine Reihe von Finanz- und Arbeitsmarktkrisen. Auf der Einzel- oder Familienseite stellen sie die wachsende Unfähigkeit fest, ihre wirtschaftlichen Ressourcen zu verwalten, den Ehrgeiz, ihren Lebensstil zu verbessern, die Unfähigkeit, die Lebensweise angesichts der eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten anzupassen oder die Illusion eines einfachen Verdienstes. Besonders betroffen sind die Jüngsten, die ständig bestrebt sind, sich selbst zu übertreffen.

Staat darf ausgleichende Rolle nicht aufgeben
In der Schweiz wie anderswo zeigt die Gesellschaft als Ganzes und auch die öffentliche Hand, dass sie nicht in der Lage ist, konstruktiv und effektiv mit den neuen Erscheinungsformen der Armut umzugehen. Die Tendenz, auch in unserem Land, die Sozialhilfe zu reduzieren, um die Staatsfinanzen zu verbessern, erleichtert nicht die Überwindung solcher Probleme! Im Gegenteil, ich glaube, dass der Staat seine Rolle des sozialen Gleichgewichts, der Umverteilung von Reichtum und Chancen sowie der Unterstützung der Schwächsten nicht aufgeben darf.

Auf der Grundlage meiner sozialen Arbeit unter den am stärksten Benachteiligten im Kanton Tessin erscheint es mir sinnvoll, nicht nur die tieferen Gründe für individuelle und kollektive Übel zu analysieren, sondern auch die Geschehnisse auf der Ebene der kollektiven Kultur und Mentalität aufzuzeigen. Ich halte es für ziemlich wichtig, eine andere Sensibilität, wie sie seit einiger Zeit von Papst Franziskus hervorgehoben wurde, für die «sozialen Peripherien» zu fördern. In ihnen nistet sich das moderne soziale Unbehagen ein. Folglich geht es darum, die politischen Behörden, die Wirtschaftsakteure und alle Mitglieder der Zivilgesellschaft, Gläubige und nicht Gläubige, aufzufordern, ihre Kräfte zu bündeln, um die falschen Gegensätze zwischen Privilegierten und Benachteiligten zu überwinden.

Alle religiösen Traditionen berufen sich auf die Pflicht, den Bedürftigen zu helfen, eine menschliche und spirituelle Verpflichtung zur Fürsorge für die am meisten benachteiligten sozialen Gruppen zu übernehmen und jedem Menschen angemessene Lebensbedingungen zu garantieren. Die Gründe für die Armut werden in Egoismus und Selbstgefälligkeit identifiziert. Doch aus glaubwürdiger Sicht sind soziale Gerechtigkeit und Solidarität mit den Armen das einzige praktische Zeugnis für die wohlwollende Gegenwart Gottes in der Welt!

Den Wert der «Nüchternheit» wieder entdecken
In diesem Zusammenhang erscheint es mir sinnvoll, an die Überlegungen zu erinnern, die christlichen Kirchen zu Beginn des neuen Jahrtausends mit der «Ökumenischen Konsultation zur sozialen und wirtschaftlichen Zukunft der Schweiz» angestellt haben. Unter Hinweis auf das Recht eines jeden Menschen auf eine gesunde natürliche Umwelt, auf Bildung, Beschäftigung und gerechten Lohn, haben die Kirchen einen gemeinsamen Wert hervorgehoben, der wieder entdeckt werden muss: die Nüchternheit. Dieser Wert ist nicht nur menschlich, grosszügig und unterstützend, sondern könnte auch zu einer Norm für globales Verhalten werden. Individuelle, familiäre und kollektive Entscheidungen erfordern einen entscheidenden und kohärenten Wendepunkt, unter Achtung der begrenzten natürlichen Ressourcen, für den Schutz der Schöpfung und die Förderung eines geistlicheren und brüderlicheren Lebensstils. Das hat Franz von Assisi mit dankbarer Verblüffung erlebt!

Samuel Degli Antoni

Der Artikel erschien auch  auf französisch in der Schwesterzeitschrift frères en marche 2/20


Bruder Martinos verschiedene Sozialprojekte der „Fondazione Francesco per l’aiuto sociale“ werden auf https://regaloamico.ch/ (italienisch) vorgestellt