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La Boca, Buenos Aires, © Martin Rulsch, Wikimedia Commons, CC-by-sa 4.0
La Boca, Buenos Aires, © Martin Rulsch, Wikimedia Commons, CC-by-sa 4.0

Mit der Wahl des Jesuiten Jorge Mario Bergolio am 13. März 2013 zum Nachfolger von Benedikt XVI. ist eine Vision wahr geworden, wie es lateinamerikanische Theologen seit langem gefordert hatten:

Ein «papa-pastor» soll es sein, nicht ein Papst, der aus der römischen Kurie stammt, nicht ein Papst, der aus dem traditionellen mitteleuropäischen katholischen Milieu stammt, sondern ein Papst aus einem Teil der Weltkirche, der selbst arm ist und die «Option für die Armen» ins Zentrum seiner pastoralen, sozialen Mission stellt.

Der Papst soll schliesslich einer Lokalkirche entstammen, die ihre eigene, im Volk erprobte Theologie hervorgebracht hat und von einer befreienden Spiritualität geprägt ist, welche soziale Verhältnisse zu verändern und Herzen zu erwärmen vermag. Kaum jemand wagte zu hoffen, dass der Nachfolger des klassischen Theologen-Papstes Benedikt XVI. diesem Profil entsprechen würde.
Dieser Vision entsprechend hat der Argentinier Jorge Maria Bergolio von allem Anfang an überrascht mit seinem neuen Amtsstil – er verzichtet beispielsweise auf seine Amtswohnung und zieht in das Gästehaus Santa Marta – und mit seinem Reformprogramm, das sich an den missionarischen und pastoralen Aufbrüchen der lateinamerikanischen Ortskirche orientiert. Es ist daran zu erinnern, dass der jetzige Papst Vorsitzender der Reaktionskommission des wichtigen Dokuments der lateinamerikanischen Bischöfe (CELAM=Consejo episcopal latinoamericano) von 2007 war. Hier fliessen die wesentlichen Anliegen und Dynamiken der lateinamerikanischen Befreiungstheologie zusammen: Erneuerung aus dem Evangelium, Option für die Armen, Kirche der Partizipation, soziales Engagement, Gerechtigkeit für alle. Ohne diese lateinamerikanische Prägung sind seine erste programmatische Schrift («Evangelii gaudium», 2013) wie auch seine weiteren Überlegungen und Anregungen nicht zu erklären. So finden sich denn auch die wichtigsten Stichworte seines Pontifikats in diesem Dokument.

Peripherie und Zentrum
Franziskus wirbelt die beiden Kategorien Peripherie und Zentrum durcheinander. Bestimmend soll nach ihm nicht mehr das Zentrum sein, das von Europa, seinem Geist und seinem Wohlstand bestimmt wird, sondern die machtlose Peripherie: Die Randgebiete mit den meisten katholischen Gläubigen werden durch den Papst des Südens ins Zentrum der geistlichen Macht des Nordens geholt. Sich am Wanderprediger Jesu orientierend, rückt er die Armen, Ausgegrenzten, Entrechteten und Vergessenen ins Zentrum. Von Beginn seines Pontifikates an ermahnt er die Kirche, aus sich herauszugehen und ihr Engagement auf die «Armen» zu richten. Es war ein deutliches Zeichen, als ihn seine erste Reise nach Lampedusa führte, jener von Flüchtlingen und Heimatlosen überfüllten Insel. «Ich wünsche mir eine arme Kirche für die Armen. Sie haben uns vieles zu lehren. Es ist nötig, dass wir alle uns von ihnen evangelisieren lassen», so heisst es im Gefolge in seiner ersten Programmschrift, in seinem ersten apostolischen Schreiben («Evangelii gaudium»). Mit diesem Bekenntnis scheinen die Massregelungen und Ausgrenzungen der «Theologie des Südens», die es unter Kardinal Ratzinger von Seiten der Glaubenskongregation gab, wohl nicht vergessen, aber doch überwunden zu sein. Nach Jahrzenten der Diskussion, der Querelen, der Verurteilungen und der Klärung, ist die einstmals umstrittene vorrangige «Option für die Armen» selbst in den Mittelpunkt der Verkündigung und ins Zentrum der Macht gerückt.

Tektonische Verschiebung
Mit der Wahl von Jorge Mario Bergolio sind die dynamischen Aufbrüche in Lateinamerika auch in Rom angekommen. Bis anhin sind sie weitgehend regionale Phänomene geblieben. Bergolio, Sohn einer italienischen Einwandererfamilie, ist durch die Schule der Befreiungstheologie gegangen, wie sie sich seit den 1970er Jahren in Argentinien ausgebildet hat. Dazu gehören Theologen wie Lucio Gera, Rafael Tello und vor allem der auch in Europa bekannte Juan Carlos Scannone. Er hat den jungen Jesuiten Bergoglio besonders mit seiner Forderung nach einer «pastoral popular» und der «inserción» des Evangeliums in der Welt der Armen nachhaltig geprägt. Als Provinzial der Jesuiten in Argentinien, als Erzbischof von Buenas Aires und als Mitglied im Leitungsteam des CELAM hat er erfahren, welche Kraft der Erneuerung und der Veränderung vom Evangelium ausgehen kann, sei es im kirchlichen wie im gesellschaftlichen Bereich. Diese Verlebendigung durch das Evangelium führt zur missionarischen Kirche, die nicht in erster Linie andern predigt, sondern sich von innen her erneuert und dadurch zum Zeugnis für andere wird. Dies ist auch ein Vermächtnis lateinamerikanischer Theologie.

Zeitenwende
Die historische Bedeutung des Pontifikats von Papst Franziskus liegt wohl darin, dass er die eurozentrische Kirche aufbricht und aufmischt mit seinen lateinamerikanischen Erfahrungen und Sichtweisen. Zum ersten Mal in der Kirchengeschichte «weht der Wind aus dem Süden» (Kardinal Walter Kasper). In grosser Unbekümmertheit ruft er zur Erneuerung der verkrusteten kirchlichen Strukturen auf, selbst zur Umgestaltung des Papsttums. «Da ich berufen bin, selbst zu leben, was ich von den anderen verlange, muss ich auch an eine Neuausrichtung des Papsttums denken. Meine Aufgabe als Bischof von Rom ist es, offen zu bleiben für die Vorschläge, die darauf ausgerichtet sind, dass eine Ausübung meines Amtes der Bedeutung, die Jesus Christus ihm geben wollte, treuer ist und mehr den gegenwärtigen Notwendigkeiten der Evangelisierung entspricht» (Nr. 32). Franziskus kehrt den Stil der wohldosierten, harmonisierenden und vorsichtigen Worte seiner Vorgänger um in einen pastoralen Stil der Ungezwungenheit und der Direktheit, ja der Irritation, die erstaunend manche Fragen zurücklässt.
Gleich zu Beginn seines Pontifikats formiert sich daher fast folgerichtig ein Widerstand in der traditionell-römischen Kirche und nicht zuletzt in der Kurie des Vatikans selbst. Kardinäle kritisieren, der Papst würde den Pfad der Rechtgläubigkeit verlassen und die Kirche in eine falsche Richtung führen. Diese Opposition hat im Wesentlichen mit der tektonischen Verschiebung zu tun, in der sich dem eurozentrischen Mittelpunkt in Rom eine andere Schicht der Weltkirche mit ihren Überzeugungen und Erfahrungen unterschiebt und zum Erschüttern bringt. Verschiebungen der Kontinentalplatten haben immer Erdbeben zur Folge. Die Wahrnehmung vieler – vor allem in der nördlichen Hemisphäre – ist nicht unberechtigt, dass sich der erfrischende Wind aus dem Süden an diesen Widerständen, ja Trutzburgen, zu sehr abgekühlt hat und dass vom ursprünglichen Erneuerungswillen nicht mehr viel übriggeblieben ist. Darüber werden die nächsten Jahre entscheiden müssen.

Pastoral und Theologie
Der Papa-pastor, der Pastor in der Nachfolge des Petrus, schöpft seine Grundideen aus einer Theologie des Volkes, wie sie in Argentinien entwickelt wurde. Lucio Gera, ein enger, einflussreicher Freund des Erzbischofs Bergolio, hat geschrieben, dass das Novum der argentinischen Theologie darin bestehe, die Pastoral in ein enges Verhältnis zur Theologie gesetzt zu haben. Hier liegt auch der Kernpunkt von Papst Franziskus. Es geht ihm in erster Linie nicht um die Ausbuchstabierung der «rechten Lehre», der Dogmatik, sondern darum, den Glauben in der Praxis, in den Gemeinden und Lokalkirchen zu verlebendigen. In der konkreten Praxis sollen Formen eines «lebendigen Kirche-Seins» gefunden werden. Aufgabe der Theologie ist es, diesen Prozess zu begleiten und aus der Pastoral neue Kriterien des Handelns und Urteilens zu gewinnen. Er selbst wendet dieses Prinzip in seinem postsynodalen Schreiben «amoris laetitia» (2018) an, wenn er eine Blickänderung auf die heutigen Ehe- und Familienformen fordert. Zuerst sollen die unterschiedlichsten Formen des familialen und partnerschaftlichen Zusammenlebens – mit all ihren Momenten des Gelingens und Scheiterns – zur Kenntnis genommen werden. Mit diesen Realitäten in seiner Tätigkeit in Argentinien bestens vertraut, misstraut er der herkömmlichen theologischen, deduktiven Methode, die aus allgemeinen Wahrheiten weitreichende Folgerungen für Einzelsituationen ableitet. Angesichts der komplexen Situationen versagen schematische Antworten. Stattdessen gilt es, im wohlwollenden Hinhören im Lichte des Evangeliums für das Wohlergehen der Menschen zuträgliche Lösungen zu finden. Gerade was der Umgang mit geschiedenen Wiederverheirateten anbelangt, findet er in Abweichung zu seinen zwei Vorgängern einen pastoral gangbaren Weg. Es ist zu hoffen, dass diese theologische Vorgehensweise auch auf andere Lebensbereiche (z.B. Beziehungsethik, Sexualethik) und kirchliche Strukturen (z.B. Partizipation, Amtsverständnis) angewendet wird.

Synodalität der Kirche
Der Papst ist klug genug, seine lateinamerikanische Sichtweise der «teologia del pueblo» mit den Aufbrüchen des Zweiten Vatikanischen Konzils zu verbinden. Im wichtigen, ja revolutionären Konzilsdokument «Lumen gentium» (1964) findet sich das Stichwort «Synodalität», das für den Papst so zentral geworden ist. Synodalität entstammt einem griechischen Wort und meint «gemeinsam auf dem Weg sein», und das bedeutet theologisch: Die Kirche verwirklicht sich im «Volk Gottes», das gemeinsam unterwegs ist. Im gegenseitigen Hören und im Aufeinanderzugehen sollen Formen des verbindlichen Handelns und Feierns gefunden werden. Das alte pyramidale Bild der Kirche als einer perfekten, hierarchisch gegliederten Gesellschaft (societas perfecta) wird hier auf den Kopf gestellt. Das «Volk Gottes» auf dem gemeinsamen Weg ist die ursprüngliche Form, wie sich Kirche realisiert. Der Papst reichert diesen Grundgedanken mit seinen lateinamerikanischen Prägungen und Erfahrungen an. In dieser einmaligen Verbindung setzt er die Gesamtkirche im «synodalen Prozess» in Bewegung. In der Tat: ein Mammut-Unterfangen, von dem im Moment niemand weiss, ob und wie es gelingen wird.
Adrian Holderegger