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Gemäldeausschnitt: «Auferweckung des Sohnes des Teophilus und des inthronisierten Petrus» von Filippino Lippi (Kirche Santa Maria del Carmine in Florenz) Meister Eckhart (links). © Sailko, Wikimediacommons
Gemäldeausschnitt: «Auferweckung des Sohnes des Teophilus und des inthronisierten Petrus» von Filippino Lippi (Kirche Santa Maria del Carmine in Florenz) Meister Eckhart (links). © Sailko, Wikimediacommons

Seit geraumer Zeit erfahren früher marginalisierte mystische Traditionen einen Aufschwung, etwa der mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart (1260–1328).

Sie brechen offenbar in eine dogmatisch begradigte Theologie herein, um sie zu öffnen auf die Situation der Unsicherheit hin, in die sich Menschen heute mehr und mehr gestellt sehen.

Warum Mystik?
Seit geraumer Zeit erfahren mystische Traditionen, die in der bisherigen Kirchen- und Theologiegeschichte stets marginalisiert wurden, einen Aufschwung und ernsthafte Beachtung. Es scheint, als brächen diese bisher marginalisierten Traditionen nun allenthalben in eine dogmatisch begradigte selbstgewisse Theologie herein, um sie zu öffnen hin auf die Situation der Unsicherheit, in die sich Menschen heute mehr und mehr gestellt sehen. Damit stehen diese Traditionen an der Seite von und in Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Transformationsprozessen wie ‚Gender trouble’ und religiöser Pluralisierung. Wir bewegen uns nicht nur theologisch in einer Situation des Auf- und Umbruchs; bisher vielleicht gerade noch Tragendes trägt nicht mehr, weil es die Komplexität unserer Erfahrungswirklichkeit nicht mehr trifft – insofern es diese Komplexität nämlich offensichtlich reduziert.

Ist also, wenn die Auflösung bzw. das Zerfließen von festen Orten des Sinns das Problem ist, Mystik vielleicht die Lösung?

Mystiker und Mystikerinnen haben selbstverständlich gebrauchten Gottesbildern und festgelegten Gottesorten oft eine wohlbegründete Skepsis entgegengebracht. Begründet ist diese Skepsis in der Erfahrung, dass das, was uns und alles um uns herum ausmacht, viel tiefer, andersartiger und verflochtener ist als das, was wir davon erkennen können. Denn was wir erkennen können, ist immer der binär strukturierten Wahrnehmung unserer Endlichkeit verhaftet und insofern, wie Meister Eckhart sagt: „dies und das“. Die Erfahrung einer uns entzogenen Tiefe und Verbundenheit von allem schafft also eine gewisse Distanz zu allzu verführerischen Entweder-Oder-Evidenzen und hält die Gegenwart und Zukunft offen für mehr und daher für Transformation und Revision bisher für gültig befundener Kategorien. Aus dieser Erfahrung heraus kann die erwähnte Skepsis zum Erkenntnisprinzip werden: gegen die Annahme, Wissenschaften, Religionen oder Autoritäten könnten uns ein für alle Mal klare und unumstössliche Erkenntnisse liefern, auf die wir sichere und universal gültige Urteile gründen könnten. D.h. nicht, dass überhaupt keine Erkenntnisse und Urteile möglich wären, aber diese können nicht anders denn von vorläufiger, begrenzter, relationaler Geltung sein. Mystische Theologie, so die These meines Beitrags, übt daher in den Umgang mit Ungewissheit ein. Sie gibt eine Hermeneutik für unsichere Zeiten an die Hand. Statt Verlustangst nährt sie Vertrauen in die Kreativität der unendlichen Lebensmöglichkeiten Gottes. Mystik ist daher zugleich notwendig für die Lebendigkeit, Pluralität und Fluidität des Glaubens, dafür, dass der Glaube eine „Resonanzsachse“ (vgl. Rosa 2016) sein kann.

Mystik kann konstruktiv umgehen mit der Tatsache, dass wir nicht (vollständig) ‚Herr’ über die Prozesse unseres Lebens sind und dass wir, wenn wir das nicht beachten, den Grenzenlosen durch unsere verengte Perspektivität regelrecht ausgrenzen. Diese Tatsache wird in Krisensituationen besonders evident. Insofern sind Krisenzeiten, das zeigt auch der Blick in die Geschichte, Zeiten der Mystik. In ihnen hängt die Zukunft entscheidend von der Fähigkeit ab, die Perspektive zu weiten, den eigenen Halt, auch wenn das ein möglicherweise schmerzhafter Prozess ist, nicht an bestimmte Orte zu binden, sondern Halt zu suchen, sich selbst zu suchen, Gott zu suchen auf dem Weg und in der Offenheit. Solche Offenheit des Denkens ist ein besonderes Kennzeichen der Theologie und Mystik Meister Eckharts, der ihn in seiner Zeit des ausgehenden Mittelalters zu einem Wegbereiter der Moderne werden ließ. Sie folgte aus seiner Überzeugung von der Einheit unserer Wirklichkeit in ihrer Tiefe, von dem Involviertsein von allem in alles. Dies ist ein Gegenkonzept zu den Abgrenzungskonzepten, die wir täglich leben, die uns aber unzufrieden machen und in Angst und Gewalt führen; es ist aufmunternder Zuspruch, der Gottoffenheit der Wirklichkeit zu entsprechen und so auch kommunikations- sowie urteilsfähiger zu werden im Blick auf die pluralen Deutungen der Welt, mit denen wir konfrontiert sind.

Es ist damit zugleich auch ein Gegenkonzept zu einer uniformen Glaubenstradition.  Die Pluralität innerhalb des Christlichen gerät mehr und mehr in den Blick, es werden Denker und Denkerinnen am Rande neu entdeckt, die Jahrhunderte lang eher zugedeckt waren. Sie gehören ganz wesentlich und konstitutiv zum Christentum. Diese Erkenntnis wird allenthalben als Bereicherung spürbar.

Mut zur Unsicherheit: Meister Eckharts Denken
Apophatische Theologie und Gottesgeburt

Meister Eckharts steht deutlich in der Tradition der pseudo-dionysischen negativen Theologie. Am Anfang seiner Predigt Nr. 83 über Epheser 4,23 „Renovamini spiritu“ sagt er, wir sollten Gott lieben „wie er ein Nicht-Gott ist“, zur Verdeutlichung fügt er noch an: „wie er ein Nicht-Geist, eine Nicht-Person, ein Nicht-Bild ist …“. Die apophatische Strategie verfolgt das Ziel, über alle Grenzen (die in jedem Begriff mit ausgesagt sind) hinauszugehen – immer noch einmal einen Schritt weiter, vom gefundenen Begriff oder Bild hin zu dessen Negierung. Denn Gott ist ja der/die/das ganz Andere. Durch diesen Kunstgriff wird ein Begriff für Gott oder ein Bild für Gott zugleich unbrauchbar, um Gott gegen das, was Nicht-Gott ist, abzusetzen – also gerade nicht mehr brauchbar für eine Entgegensetzung zwischen Profanem und Heiligem, Innen und Aussen, Zeitlichem und Ewigem, auch nicht zwischen dem Einen und dem Nicht-Einen. Denn auch der Begriff des Einen ist in diesem Zusammenhang kein dem Begriff des Vielen (oder Anderen) entgegengesetzter mehr. Das Eine in diesem entkategorialisierenden Sinne sträubt sich gegen jede Art von Grenzziehung und zeigt die Verbindung mit allem an. Es hat also nicht mit der numerischen Eins zu tun, sondern bezeichnet gerade die Übersteigung unserer binären Kategorien.

Um dies theologisch fruchtbar zu machen, treibt Eckhart die apophatische Theologie auf die Spitze. Für die Besonderheit der Wirklichkeit der unbegrenzten Güte Gottes findet er den Begriff der negatio negationis. Negation von Negation – oder: Ausschluss von Ausschluss. Es gibt kein Außerhalb Gottes. Diese Definition unterscheidet sich von allen anderen Definitionen gerade dadurch, dass sie das zu Definierende nicht von anderem unterscheidet bzw. abgrenzt. Damit ist die ganze Lebenswelt in Gott hineingehoben. Notwendigerweise ist die gesamte Lebenswelt damit auch in die Theologie hineingehoben, will sie diesem Gott auf der Spur bleiben. Und doch ist die Welt und was in ihr geschieht nicht mit Gott identisch. Vielmehr ist Gott das Andere unserer Ab- und Ausgrenzung und gerade so das, was wir zutiefst ersehnen.

Diese Sicht fordert heraus zu einem Engagement überall da, wo Exklusion und Marginalisierung geschehen, denn diese werden dem Grund der Wirklichkeit, aus dem wir leben und der unserer Vielfalt Raum gibt, nicht gerecht. Anders und mit Eckhart gesagt: „Gott (…) ist seinem Wesen nach allumfassende Liebe.“ (Sermo VI/51). Deswegen bedeutet Differenz nicht Distinktion oder Separation. Vielmehr gewinnt die ausdrückliche Erwartung Raum, dass jeder, jede und jedes, das anders ist als ich selbst, eine Bereicherung, eine grössere Einsicht in die uneingrenzbare Tiefe und Weite der Wirklichkeit Gottes für uns alle bedeutet. Denn Gottes Grund ist, so Eckhart, zugleich mein Grund und unser aller Grund (vgl. Pr. 5b).

Um die Art und Weise des wechselseitigen Ineinanders von Welt und Gott als negatio negationis zu veranschaulichen, benutzt Meister Eckhart eine aufschlussreiche Metapher. Die Metapher von der ‚Gottesgeburt’: Sie changiert zwischen Aktiv und Passiv. Gott wird durch uns in der Welt geboren, dadurch dass wir in Gott geboren werden. Ein Geschehen, an dessen Zustandekommen der Anteil Gottes und unserer Eigenanteil offensichtlich nicht voneinander zu trennen sind. Geborenwerden und Gebären gehen ineins. Die Rede von der Geburt bringt die gesamte Wirklichkeit in einen Austausch, in einen Fluss. Je mehr wir uns zustimmend in diesen Austausch hineinstellen, desto besser ist Gott, Eckhart zufolge, in uns erkennbar. Und desto besser sind auch wir als diejenigen erkennbar, die diesen Gott zu bezeugen versuchen – wenn wir selbst zum Raum für andere werden können, durch Offenheit, Anerkennung, Sein lassen, Vermeidung von Polarisierungen, Abwehr von Separation. Gottes Grund, der zugleich mein und aller Grund und als solcher „allumfassende Liebe“ ist, ist zugleich der Grund, aus dem immer wieder Anfänge positiven Miteinanderlebens im Hier und Jetzt hervorgehen. Das alles heißt: Gott lieben, „wie er ein Nicht-Gott ist“. Denn nur als Nicht-Gott ist Gott Gott.

Dass Meister Eckhart in seinen Texten uns immer wieder zum Lassen des Selbst auffordert, hängt sehr eng mit diesem Denken Gottes als Nicht-Gott zusammen. Wenn der Mensch von sich selbst positiv-affirmativ als Ich spricht, setzt er sich in einen Gegensatz zu allem anderen, das Nicht-Ich ist. Gott dagegen so Eckhart, verzichtet auf das „ego“, d.g. auf abgrenzendes Ich-Sagen. Er setzt sich also nicht in Konkurrenz zu uns. Sein Selbst steht nicht infrage, weil es nicht exklusiv, sondern inklusiv ist. Gerade darum kann Gott in eigentlichem Sinne Ich sagen. Und deswegen gilt, ich zitiere Pr. 28: „,Ego‘, das Wort ,Ich‘, ist niemandem eigen als Gott allein in seiner Einheit.“ In dem Moment, in dem einer die gewohnten Strategien zur Selbstbestätigung, das, was Eckhart als „Eigenwillen“ bezeichnet, sein ließe, dürfte er/sie erfahren, dass er (als er selbst/sie selbst) dennoch nicht aufhört zu sein und ein Ich zu sein. Darauf käme es an: das selbst zu lassen, insoweit es uns am Empfang der Weite des eigenen Ich durch Gott hindert und damit am Inkludieren-Können des anderen. Daher führt Eckhart die Predigt 28 weiter, indem er anfügt: Die Worte ,ego‘ und ,vos‘, ,Ich‘ und ,Ihr‘, gehören zusammen. Das Ich in dem Sinne, in dem Gott es spricht, ist ohne das Ihr nicht denkbar.

So vermag eine radikal apophatische Gottes- und Weltrede eine positive Gestaltungskraft zu begründen, die auf die Aktualisierung der immer noch einmal größeren positiven Möglichkeiten Gottes setzt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Meister Eckharts Mystik immer wieder auch von dekonstruktivistischen Hermeneutiken (etwa bei Caputo u.a.) aufgegriffen wurde. Wie Eckhart sehen sie gerade in der radikalen Entdeckung der Ambivalenz menschlicher Sprach-, Deutungs- und Handlungsfähigkeit (diese ist immer exkludierend) eine Möglichkeit zu ihrer Überschreitung, die letztlich im Schweigen und im Sich-selbst-Zurücknehmen wirklich wird. In ähnlicher Weise unterläuft die Theologie Meister Eckharts weitgehend den Machtgestus der Gottesrede und damit die Versuchung zur Distinktion. Ebenso wenig wie der moderne Dekonstruktivismus hält sie verbindliche Antworten auf unser Suchen nach Halt gebendem Sinn bereit. Sie ermutigt aber dazu, sich auf die Unsicherheit des Lebens einzulassen: tolerant, sein lassend, Raum gebend, erwartungsvoll. Dies möchte ich noch näher ausführen.

Methodische Verunsicherung
Schon die zentralen Begriffe, die Eckhart für die Beschreibung der Beziehung zwischen Mensch, Welt und Gott benutzt, sind durchgängig mehrdeutig (z.B. grunt, minne, sun, wesen, selbes, esse, imago, generatio, caritas u.v.m.). Die Herausarbeitung eines festen Begriffssystems scheint schwierig, wenn nicht prinzipiell unmöglich, will man nicht Wesentliches des Denkens Meister Eckharts aus dem Blick verlieren. Es ist offensichtlich ein zentrales Anliegen seiner Theologie, Leser*innen und Hörer*innen stets über die redlich gewonnene Erkenntnis hinaus wieder ins Unsichere zurückzuwerfen.

Eckhart bedient sich zwar der philosophischen Begriffe seiner Zeit, aber sie genügen ihm nicht. Er entfernt sich, zumal wenn er nicht in akademischem Umfeld spricht, immer wieder von der terminologisierten Diskurssprache und arbeitet mit unvermittelten, terminologisch nicht vorfixierten Beschreibungen bzw. Metaphern. Gezielt evoziert er damit Assoziationen und Emotionen, die einer durch Terminologien vorformierten Diskurssprache nicht in dem Masse möglich wären. Das sei im Folgenden kurz an zwei Beispielen deutlich gemacht.

Erstens: In den Reden der Unterscheidung spricht Eckhart über das Streben des Menschen nach Einheit mit Gott, indem er die Metaphern ›Unruhe‹ und ›Ruhe‹ benutzt. Diese Metaphern gemahnen einen religiösen Leser bzw. die religiöse Leserin zunächst an die eigene innere Unruhe und das eigene Suchen nach Gott. Gott wird ihm gegenwärtig als Zielvorstellung, in dem endlich Ruhe zu finden wäre. Wir denken an Augustinus: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir, o Gott.“ (Confessiones I,1). Eckhart selbst zitiert diesen Satz des Öfteren. Doch wider Erwarten gibt Eckhart der Metapher eine völlig andere Wendung und stellt die Vorstellung von Gott als dem Ruhepunkt, auf den unser vorher immer unruhiges Suchen hinläuft, in Frage. Er sagt nämlich, der gelâzene mensche (jener ‚gelassene Mensch‘ verkörpert für Eckhart immer das Ziel der Einheit mit Gott) „sucht keine Ruhe, denn ihn hindert keine Unruhe“ (Erfurter Reden, Kap. 6).  Ruhe ist hier nicht etwas, das klassischerweise am Ende des irdischen Lebens erlösend auf uns zukäme, sondern etwas, das im eigenen Leben und der eigenen Daseinsweise seinen Grund hat. Das bedeutet umgekehrt, dass auch der Grund der Unruhe in uns selbst liegt (nämlich insofern wir nicht gelâzene sind): Wir sind nur deshalb auf der Suche nach Ruhe und erleben unser Leben als unvollkommen, weil wir in unserer Unruhe nicht vermögen, die Nähe Gottes (nämlich des Gottes, wie er ein Nicht-Gott ist) wahrzunehmen. Dem gelassenen Menschen dagegen ist Gott in jeder Lebenssituation stets gegenwärtig, daher ist für ihn die Entgegensetzung von Unruhe und Ruhe irrelevant .

Zweitens: Ähnliche Irritationen erzeugt Eckhart, indem er in der Predigt Nr. 86 über den Lebensweg des Gottgeeinten spricht: Sein Weg sei deswegen nicht mehr in eigentlichem Sinne Weg, weil er zugleich ein Zuhause sei.  Mit ›Weg‹ verbinden wir gemeinhin Mühe und Strapazen und zugleich Vorläufigkeit. Wir wollen nicht für immer auf dem Weg bleiben, nicht immer unterwegs sein, sondern irgendwann an dem Ziel ankommen, zu dem der Weg uns führt. Mit ›Zuhause‹ assoziieren wir Geborgenheit, Angekommensein, Nicht-weiter-Müssen, Wärme, Ruhe. Eckhart aber hebt, wider unseren sprachlich-logischen Verstand, die Kontrarität der Begriffe ›Weg‹ und ›Zuhause‹ in der Gottgeeintheit auf, um zu veranschaulichen: Wer mit Christus geht, der wohnt in ihm, wer in Christus wohnt, der geht mit ihm, der hat ein Zuhause auf dem Weg gefunden. Ähnlich geht Eckhart durchaus auch in den lateinischen Werken vor. Auch hier verwischt er akzeptierte begriffliche Zuordnungen, etwa die zwischen generatio (Hervorbringung/Geburt) und creatio (Schöpfung), um das Ineinander von Gott, Welt und Mensch zum Ausdruck zu bringen. Dahinter steht m. E. die Überzeugung, dass jede begriffliche Trennung zwar einerseits den Diskurs erleichtert, präzisiert und für einen Erkenntnisfortschritt unabdingbar ist, aber andererseits die Komplexität der Wirklichkeit reduziert und verschleiert. Die Begriffssprache suggeriert, es bestünden voneinander getrennte Wirklichkeitsbereiche, wo doch stets das eine nur in Bezug auf das andere ist. Erst der Wechsel zwischen verschiedenen Begriffen (z.B. zwischen Sein, Erkennen und Liebe für das Wesen Gottes) macht auch im Diskurs diesen untrennbaren Zusammenhang (die ›Einheit‹) der Ebenen sichtbar. Eckharts ›Verwirrung‹ der Begriffe ist also nicht Ausdruck irgendeines mystisch-irrationalen Denkens, sondern nimmt unsere Wortlaute, die wir im Verlauf unserer Glaubensgeschichte herausgearbeitet haben (wie etwa oben den klassische Topos von Gott als unsere Ruhe) in die Kritik und erzwingt dadurch so etwas wie eine permanente Selbstkorrektur. Eckhart unterläuft unsere Erwartungshaltung. Er vermeidet die blosse Affirmation des Sprach- und Gedankenhorizonts der Leser*innen und Zuhörer*innen. Vielmehr will er diese stets aufbrechen und erweitern. Letztlich intendiert er, dass Zuhörer und Leserinnen diesen Horizont selbst in Zweifel ziehen.

Eckharts Theologie übt dadurch ein in den Umgang mit einer Vielfalt gegensätzlicher Positionen. Sie vermeidet für sich selbst in sich geschlossene Positionen und hat daher keine Scheu, Gedanken aus neuen Zusammenhängen aufzunehmen. Denn all diese Positionen können zwar einen vorläufigen Halt bieten, aber gerade dadurch auch abhalten von dem Einen, das not tut (vgl. Pr. 86). Daher versucht Eckhart vielfältig mit dem eigenen Denken an neue Positionen anzuknüpfen und zwingt uns, die Logik des gerade gedanklich Nachvollzogenen auch wieder in Frage zu stellen. Gerade durch die offensichtliche Diversität der verhandelten Positionen bringt uns Eckhart also dahin, im Erkenntnisprozess zu bleiben. Unsere immer bloss vorläufigen ›Gewissheiten‹ sind als unzulässige Reifizierungen Gottes und des Lebens aufzugeben. Auch wenn und gerade weil sie dazu verführen stehenzubleiben, sich bequem in den eigenen Gedanken einzurichten, statt weiterzugehen in Richtung Wahrheit. Das wäre so, sagt Meister Eckhart in der Predigt Nr. 5b, als wickelte man Gott einen Mantel ums Haupt und verstaute ihn bequem unter einer Bank. Will man dieser Gefahr, den Unendlichen zu verendlichen und dingfest zu machen, entgehen, kommt man nicht umhin, die eigenen Sätze zu überdenken, zu relativieren und zu differenzieren in der Auseinandersetzung mit anderen – um der Wahrheit willen.

In Eckhartscher Sprache: wir müssen uns selbst lassen, um uns mit hineinnehmen zu lassen in die je grössere und komplexere Wirklichkeit Gottes. Dabei handelt es sich nicht um einen Prozess, den jemand einfach von sich selbst aus und in blossen Begriffen leisten könnte. Wir bedürfen dafür vielmehr der konkreten Welt, des Miteinanders, nicht nur der abstrakten Einsichten – denn dann schrumpfte diese Einsicht sogleich zu einer ›Gewissheit‹ im gerade benannten, defizitären Sinn, letztlich zur Bescheidwisserei, die sich wirklicher Erkenntnis und letztlich dem Leben selbst in den Weg stellt.

Die amerikanische Catherine Keller hat (mit anderen) den Begriff der Polydoxie als Alternative zur Orthodoxie und Heterodoxie geprägt, welcher der „Panonymität“ Gottes möglicherweise angemessen sei (Keller 2015). Mir scheint dieser Begriff auch auf Eckhart zu passen, insofern er nicht nur mit Dionysius festhält, dass Gott als das Nicht-Andere alles Kategoriale transzendiert, sondern auch immer wieder neue konkrete Aspekte dieses Nicht-Anderen ins Gespräch bringt, durch die deutlich wird, dass dieser Nicht-Andere uns (gerade wegen seiner Nicht-Andersheit) betrifft, angeht und verändern kann. Daher setzt er auf strategische Verunsicherung, wie ich sie exemplarisch erläutert habe.

Konsequenzen
Wir können nicht sagen, was wir selbst und was der andere und gar was Gott in Wahrheit sind. Wir können zwar über diese Wahrheit sprechen, aber wir können dabei immer nur vorläufig bleiben und sind dabei zudem immer in konkrete Machtrelationen eingebunden. Im schlechtesten Fall legen wir sie fest und machen sie zu unserem Besitz (und haben sie dadurch völlig verfehlt). Im besten Fall kann unser Diskurs über Wahrheit und Wirklichkeit dies immerhin in den Blick rücken, und wir können empfänglicher dafür werden, dass wir – stets zugleich aktiv gestaltend und passiv empfangend oder betroffen (vgl. die Metapher der Geburt), Teil ihrer sind (nicht nur Teil, sondern: wichtiger, entscheidender Teil).

Daher sollte es uns auch weniger um die Profilierung von konkurrierenden Positionen gehen als darum, durch plurale Redeweisen Fenster/Durchsichten zu öffnen auf dieses Mehr. Unsere Bilder von Gott stehen notgedrungen in der Aporie, dass sie von dem, wofür sie stehen und was sie ins Leben vermitteln wollen, zugleich wegführen – es sei denn, sie sind zugleich bestimmt durch eine ernst gemeinte Selbstrelativierung.

Es ginge in unserer Rede von Gott, aber auch in unserem Leben vor und mit Gott als Nicht-Gott, dann darum, unsere Logiken, nicht einfach vor das Gemeinte zu stellen, sondern auch damit zu rechnen, dass sie sich verändern durch die alternative Logik Gottes selbst, der sich, Eckhart zufolge, nicht als er selbst vor anderes stellt, in Konkurrenz zu diesem, sondern vielmehr dieses zum Zug kommen lässt – so dass wir  seine Anwesenheit nur in seinem Fehlen wahrnehmen können.

Das hat Konsequenzen für zentrale Diskurse unserer Zeit: etwa über das Verhältnis der pluralen Kulturen sowie Religionen und ihrer Wahrheitsansprüche oder über die Frage nach einem guten Leben. Noch einmal – vermeintlich ganz einfach – mit Eckharts Reden der Unterweisung gesagt: Es ginge darum, „niemandes Weise zu verachten“, nicht motiviert durch einen gleichgültigen Relativismus, sondern motiviert durch die Liebe zu Gott, „wie er ein Nicht-Gott ist“.  Mit diesem liebenden Blick betrachtet, stehen unsere unterschiedlichen Such-Wege in keinem Verhältnis der Konkurrenz, sie verhalten sich vielmehr komplementär. Es gibt, so Eckhart, verschiedene »gute Weisen«. Eine berühmte Stelle aus den Erfurter Reden lautet:
„Denn Gott hat der Menschen Heil nicht an irgendeine besondere Weise gebunden. Was eine Weise hat, das hat die andere nicht; das Leistungsvermögen aber hat Gott allen guten Weisen verliehen, und keiner guten Weise ist es versagt, denn ein Gutes ist nicht wider das andere. Und daran sollten die Leute bei sich merken, dass sie unrecht tun: wenn sie gelegentlich einen guten Menschen sehen oder von ihm sprechen hören, und er folgt dann nicht ihrer Weise, dass dann 〈für sie〉 gleich alles als verloren gilt. Gefällt ihnen deren Weise nicht, so achten sie gleich auch deren gute Weise und ihre gute Gesinnung nicht. Das ist nicht recht! Man soll bei der Leute Weise mehr darauf achten, dass sie eine gute Meinung haben, und niemandes Weise verachten.“

Die Rede von den guten Weisen (welche impliziert, dass es durchaus auch schlechte Weisen gibt), macht deutlich, dass es nicht darum geht, alles gleich gut zu finden, sondern dass der Verzicht auf die Verachtung anderer Weisen zum Kriterium für eine gute Weise wird. Der christliche Glaube an den Gott, der jeden und jede in seinem So-Sein trägt (und uns deswegen fehlt), verpflichtet dazu, dass, wie der Münsteraner Fundamentaltheologe Jürgen Werbick schreibt, „(m)ein ‚Ja’ (…) erst einmal ohne das ‚Nein’ auszukommen (versucht), weil ich nicht sicher weiss, ob das Nein um des Ja willen nötig ist; weil ich noch für möglich halten darf, dass das vom anderen geltend Gemachte der von mir bejahten Wahrheit nicht in letzter Instanz widerspricht.“ (Werbick 1992).

Es geht also um eine Gottesrede, die der Spannung, in der wir stehen, gerecht wird – sie ist wahr und nicht wahr und muss daher prinzipiell davon ausgehen, dass der eigene Weg stets der Infragestellung, Differenzierung, Abgleichung mit anderen ausgesetzt ist und ihrer bedarf und umgekehrt. Wertschätzen und Lassen der subjektiven Perspektive gehen ineins.

So warnt Eckharts Rede von den vielen guten Weisen vor Eiferei und entlastet von ihr: indem sie einerseits eine unzuträgliche Selbstzufriedenheit mit der eigenen Weise kritisiert (die Komplexität der Wirklichkeit würde dadurch aus dem Blick geraten), andererseits zu einem gewissen Zutrauen in den eigenen Weg ermutigt. Insofern Gott nicht nur transzendent ist, sondern sich nach Meister Eckhart bereits mit der Schöpfung in die Welt hineingibt, ist er in allem präsent. Deswegen sagt auch das Unverständlichste noch etwas aus über ihn, wenn auch vielleicht in äusserst verzerrter Weise. Gottes unverfügbare Wirklichkeit geht uns einerseits immer schon voraus, so dass wir sie nie völlig umfassen können (daher die Notwendigkeit der Apophase), sie ist aber gleichzeitig ganz in uns, weil wir selbst Teil von ihr sind (daher die Möglichkeit der Kataphase). Problematisch wird es, wo diese Spannung nicht reflektiert wird.

Deswegen arbeiten wir uns bis heute an den vielfältigen Gottesbildern der Bibel ab.  Aber das ist und war den Gläubigen aller Zeiten auch immer wieder zu anstrengend. Darauf weist bereits das biblische Bilderverbot hin: Auf ihrer langen Wüstenwanderung nach der Flucht aus Ägypten hielten die Israeliten die Situation nicht mehr aus, konnten an die Anwesenheit Gottes nicht mehr glauben ohne ein vermeintlich verlässliches Gottesbild vor Augen. Sie machten sich ein goldenes Kalb als eine fest umrissene Gestalt, in welches sie das Göttliche bannen und für den Kult verfügbar machen wollten. Dieses Verlangen nach einem handhabbaren, klar umrissenen Gottesbild haben Menschen bis heute, es ist ein Gottesbild, das sich der kritischen Reflexion versperrt und mit dem man daher, offensichtlich ohne in Selbstwidersprüche zu geraten, gegen andere in den Krieg ziehen kann. Es ist ein Gottesbild, das sich problemlos funktionalisieren lässt, nicht zuletzt von den religiösen Autoritäten. Überall in der christlichen Religions- und Dogmengeschichte lässt sich dies aufzeigen: in der Reformation, im Kampf gegen Häresien bzw. marginalisierte Auslegungen des Glaubens, gegen andere Religionen – und bis heute im Bezug auf die Ausgrenzung von Frauen sowie homosexuellen Männern und Frauen. Gott bzw. das, was von einer Gruppierung, welche die Macht dazu hat, darunter verstanden wird, wird zum Etikett gemacht, auf das man sich zu verständigen hat, will man selbst nicht von ihr ausgegrenzt werden. Solche Etiketten, die für einen vermeintlich sicheren Inhalt bürgen, machen unfrei und führen zu Gewalt. Das Etikett ersetzt dann die Wahrheit, im Bezug auf die wir niemals mehr als Suchende, und zwar gemeinsam Suchende, sein können. Aber die Versuchung ist, gerade in Zeiten der wachsenden Ungewissheit und der Angst vor Orientierungslosigkeit wie heute, gross, sich hinter Etiketten zu verschanzen, die das, wonach wir lebenslang auf der Suche sind, vermeintlich schon garantieren (und so auch die eigene Unsicherheit kaschieren statt sie ernst zu nehmen). Daher die entschiedene Warnung Eckharts, welche auch bereits diejenige der Bibel ist: nicht die eigene Vorstellung von Gott (oder gar die der eigenen Gruppe) absolut setzen, vielmehr Suchende bleiben – mit Gott und miteinander.

Der je grössere und zugleich in uns anwesende Gott auf dem Weg zu uns – Gott, wie er Nicht-Gott ist – sollte uns von der Angst befreien können, dass in der Wertschätzung des oder der Anderen und seiner bzw. ihrer Sicht die eigenen Konturen verschwömmen. Er könnte zur Hoffnung befähigen, dass jene alternative Logik Gottes, der nur als negatio negationis (nicht) definiert werden kann, ihre eigene Dynamik entfaltet. Diese kann sich auch darin äussern, dass einiges, was ich bisher vielleicht für sicher gehalten habe, unsicher wird. Aber gerade so verstehe ich mehr, nicht weniger, nicht zuletzt, weil ich dann auch andere mit ihren Zweifeln und Unsicherheiten besser verstehen kann. Während vermeintliches Wissen Macht generiert, führt reflektiertes Nicht-Wissen zu Solidarität.

Die Theologie und Mystik Meister Eckharts lehrt also gleichermassen Zutrauen in die Validität plural-subjektiver und somit lebendiger Gottesrede sowie Skepsis gegenüber ihrer Normierung. Beides können wir heute gebrauchen. Aber Meister Eckhart ist natürlich nicht der einzige, mit dem wir in diese Richtung gehen können. Ich möchte daher schliessen mit einem Zitat von Karl Rahner, mit dem dies ebenfalls möglich ist:
Wenn wir meinen, es müsse alles sinnvoll und begreifbar sein; wenn wir meinen, es müsse uns gut gehen, wir müssten immer Klarheit in unserem Leben haben; wenn wir meinen, wir könnten mit einem Handbuch der Moral oder mit irgendwelchen anderen, noch so wahren, noch so richtigen Begriffen, Normen, Prinzipien unser Dasein so gestalten, dass es reibungslos in sich abläuft (…) – überall steht hinter diesen Täuschungen unseres Lebens unser falsches Gottesbild, dem wir dienen. Wenn diese Bilder zertrümmert werden durch Gott (…), dann sollten wir uns immer von vornherein klar sein: Es verschwindet nicht Gott, sondern ein Götzenbild.“ (Rahner 1970).

Prof. Christine Büchner

*Vortrag der Theologieprofessorin Christine Büchner von der Universität Hamburg, gehalten an der Tagung „Meister Eckhart – Gott denken und erfahren“ vom 31.10.- 3.11.2019 im Lasalle-Haus in Bad Schönbrunn.


 Literatur:
Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Stuttgart 1936ff.

Catherine Keller, Cloud of the Impossible. Negative Theology and Planetary Entanglement, New York 2015.

Karl Rahner, Einübung priesterlicher Existenz, Freiburg 1970.

Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp 2016.

Jürgen Werbick, Vom entscheidend und unterscheidend Christlichen, Düsseldorf 1992.

 

 

 

 

 

 

 

 


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Unsicherheit wagen. Zur Relevanz der Mystik Meister Eckharts heute