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Indien und der Friede

Der Friede, in Sanskrit „shanti“, bezieht sich auf den inneren und äusseren Zustand des Menschen: Alle Gefühle der Feindseligkeit und der Begierde sind weg. Wir spüren eine tiefe Zufriedenheit und Be-fried-igung. Wir werden offen. Uns selber und allen gegenüber sind wir wohlgesinnt. Wir spüren die ganze Natur um uns herum positiv, auch die Tiere und die Menschen. Gott bleibt uns freundlich gesinnt.

Den Frieden suchen

Die indische Zivilisation und ihre ganze alte Literatur drücken eine intensive Suche nach Frieden aus. Die ersten Bücher der Veden sowie die rituellen und heiligen Aktivitäten der Brahmanen nehmen diese Qualität von shanti als Hauptziel ihrer Opfer. Der Brahmane rezitiert vor seinen Ritualen die Worte:

„Von der Nicht-Wahrheit führe mich zur Wahrheit,
von der Finsternis führe mich ans Licht,
von der Sterblichkeit führe mich zur Unsterblichkeit –
Aum, Friede, Friede, Friede.“

Yoga

Der Asket sucht durch seine harten physischen und mentalen Übungen – das Yoga – letztlich einen Zustand, der über alle Gedanken und geistigen Konstruktionen hinaus geht.
Die Mystik in der Suche zum Absoluten hat auch shanti als Ziel. Die grossen mystischen Texte die Upanishaden beginnen und enden mit einem Gebet, dem „Aufsagen für den Frieden“ (shanti-patha). Meister und Schüler sprechen zusammen:

„Dass er uns beide beschützt,
dass er uns beide nährt,
dass wir beide wunderbare Sachen unternehmen,
dass unsere Studien erfolgreich sind,
dass wir uns nie hassen.
Aum, Friede, Friede, Friede.“

Der Friede ist eigentlich der reine Zustand des „Sichs“ und nicht der Zustand des „Michs“, das durch die begierige Suche verschmutzt ist.

[bild19086w200l]Doppeldeutige Tugend

Diese grosse Suche nach Frieden bleibt in den spirituellen Lehren des Hinduismus ziemlich zweideutig. Denn daneben preist der Hinduismus auch die Suche des Königs und der Krieger nach Macht und Stärke. Das grosse Epos Mahabharata betrachtet die heroischen Handlungen der Krieger als selbstverständlich. Alle Krieger sind Reinkarnationen der Götter in menschlicher Gestalt – durch die gewaltsamen Handlungen der Eroberung. Man lehrt, dass der militante Staat und die Suche der Macht für den König normal sind. Ja, das kriegerische Verhalten wird zur Tugend, welche der Herrscher kultivieren muss. Es ist wohl diese Doppeldeutigkeit, die wir heute in Indien erleben. Ein friedliebendes Volk, das Zufriedenheit ausstrahlt, kann plötzlich in einen Zustand der Gewaltbereitschaft geraten und fürchterliche Taten ausüben.

Gewaltfreiheit / Ahimsa

Wir kennen das Konzept der Gewaltfreiheit vor allem so wie es Mahatma Gandhi für die Befreiung Indiens angewandt hat. Aber seine Lehre und sein Verständnis der Gewaltfreiheit bilden nur einen Aspekt der hinduistischen Lehre. Im alten Indien wandten sowohl die Brahmanen, die Opferpriester, wie auch die Asketen, die jegliches Opfer ablehnten, dieses Konzept an. Die Brahmanen verlangten die Tötung der Opfer, während die Asketen gegen jegliche blutige Tat waren. Später verweigerten die Brahmanen jegliche Hinrichtung. Sie ersetzten die Opfer durch Gaben in Form von Getreide.

Jainismus

Die Idee der Gewaltfreiheit wird vor allem von einer anderen alten Religion Indiens kultiviert, dem Jainismus. Sie ist der höchste Zustand des Seins, das sich selber vollkommen erobert hat. Die Methoden der Eroberung sind indessen extrem gewaltsam. Der Mensch verzichtet auf jeglichen Wunsch. Er lebt ein Asketenleben. Heute haben wir zwei Typen der jainistischen Mönche. Die Digambara – wörtlich: „Ihre Kleider sind der Himmel“ – spazieren ganz nackt, um zu zeigen, dass sie auf alles verzichten und absolut nichts besitzen. Die andere Kategorie Mönche nennt sich Shvetambara: „Jene, die weiss angezogen sind“. Sie gehen mit einem Band auf dem Mund durch die Gegend, um zu verhindern, dass sie Mikroben oder Insekten verschlucken, denen sie Gewalt antun würden. Mit einer Art feinem Besen säubern sie einen Ort, bevor sie ihn betreten. So erdrücken sie die Insekten und Mikroben nicht. Eine solche Angstvorstellung der Gewaltfreiheit (sehr symbolisch natürlich) zeigt, wie ernsthaft der Friede gesucht wird. Auch wenn der Hinduismus nicht unbedingt ein solch extremes Verhalten kennt, üben die Jainisten einen sehr grossen Einfluss auf Spiritualität und Religion aus.

Mahatma Gandhi

Im Konzept der Gewaltfreiheit, das von Mahatma Gandhi entwickelt wurde, ist der jainistische Einfluss deutlich sichtbar. Obwohl er Hindu war, wurde er in seiner Kindheit von jainistischen Mönchen unterrichtet. Für ihn waren jainistischen Lehren ein idealer spiritueller Zustand. Gandhi hat also sein Konzept der Gewaltfreiheit nicht in erster Linie im Hinduismus entdeckt. Er strebt ein so hohes Mass an Gewaltfreiheit an, dass er auf „aggressive“ Nahrung wie Fleisch oder Alkohol verzichtet. Und er ist auf der Suche nach einer perfekten Unschuld und einem radikalen Verzicht. In diesem Konzept findet Gandhi ein Ideal, mit welchem er mit grosser Schlauheit gegen den englischen Imperialismus kämpft, der trotz Grösse und Macht sehr sensibel auf Menschlichkeit reagiert.

Gandhis Erfolg

Gandhi erntet damit grossen Erfolg, nicht so sehr bei den Indern, als vielmehr bei den Engländern in Grossbritannien und andern Weltgegenden. Seine Art und seine aussergewöhnliche geistige Kraft werden geschätzt. Die Engländer, die jegliche Gewalt wirksam zu bekämpfen wussten, spürten, dass sie gegenüber einem gewaltfreien Verhalten unterlegen waren. Gandhis Techniken, die er unermüdlich anwandte, erwiesen sich als extrem wirksam. Es gelang ihm, für seine indische Heimat Unabhängigkeit und Freiheit zu erlangen; für ein Land, das während Jahrhunderten nicht nur unter den Engländern, sondern auch unter vielen anderen Mächten viel leiden musste. Aber der Sieg Gandhis über die Engländer trägt nicht dazu bei, dass Indien sich gewaltfrei verhält. Kurz nach seinem Tod schickt Indien seine Armeen nach Goa, in ein Gebiet, das von den Portugiesen besitzt ist und annektiert es. Auch die von den Franzosen beherrschten Regionen werden gewaltsam erobert. Danach begannen die Kriege mit China und Pakistan. Heute noch sind kriegerische und gewalttätige Tendenzen nicht von Indiens Boden verschwunden. Der sichere Friede ist ein grosser und spiritueller Wert. Aber es ist nicht der Wert der Könige und Krieger.

Indien und der Pazifismus

Diese auf verschiedene Art gelebte Zweideutigkeit führt dazu, dass Indien weder eine Friedenspolitik noch eine wirksame Pädagogik für Spannungs- und Kriegssituationen entwickelt hat: weder im eigenen Land, noch für die Welt und ihre globalen Konflikte. In der Tat bringt Indien keine Lösung für die weltweiten aktuellen Spannungen. Ohne Zweifel gibt es in den spirituellen Lehren Indiens ein grosses Potential für die Entwicklung einer Friedenspädagogik. Die Suche des Selbst (atman) oder des Nirvanas müssten die Menschen zum Zustand des Friedens führen. Sie müssten ihren Beitrag leisten, Konflikte positiv anzugehen. Die Suche nach den genannten Werten findet sich im Leben der Einzelnen. Aber Indien hat noch keine Methoden entwickelt, um sie auch im Grossen der Gesellschaft nutzbar zu machen.

Anand Nayak
Übersetzung: Andrea Kummer

 

2003/02

Hinduismus

ite 2003/2

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