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Indianische Theologie in Lateinamerika

Fast die Hälfte aller Katholikinnen und Katholiken weltweit lebt heute in Lateinamerika. In keinem anderen Kontinent hat der christliche Glaube so umfassend und intensiv Fuss gefasst und Wurzeln geschlagen wie in der Neuen Welt. Dabei war die Ausgangssituation denkbar schlecht. Die christliche Religion war der Glaube der Eroberer und Plünderer. Oft wurde die einheimische Bevölkerung im Namen eben dieses Glaubens geknechtet, vertrieben oder gar ausgerottet.

Statt „Götzendienst“

Wer sich etwas näher mit der katholischen „Seele“ Lateinamerikas beschäftigt, fragt sich allerdings erstaunt, wie weit denn der christliche Glaube tatsächlich in die Tiefen der Volksseele vorgedrungen ist. Vor allem in jenen Teilen des Kontinents, wo die einheimische Bevölkerung – die so genannten „Indígenas“ – noch relativ gut vertreten ist, findet man auf Schritt und Tritt Elemente in der religiösen Vorstellungswelt, die mit christlichen Werten und Bildern auf den ersten Blick denkbar wenig zu tun haben. Der von den eifrigen Missionaren der ersten Stunde bis aufs Blut bekämpfte ‚Götzendienst` hat sich allerdings für heutige Theologinnen und Theologen zu einem ‚kreativen Synkretismus` gewandelt. Hier gehen christliche und indigene Elemente Hand in Hand und ergänzen sich gegenseitig.

Inzwischen besinnen sich immer mehr Basisgemeinden in Zentralamerika, den Anden und dem Gebiet des Amazonas auf ihren kulturellen Reichtum und deren Beitrag für die Befreiung und das Leben aus dem Evangelium. Es ist ein theologisches Denken entstanden, das die jahrhundertealte Synthese von (importierten) christlichen und einheimischen Elementen kreativ und produktiv vereint.

Anden: Das Kreuzfest

Diese Indianische Theologie ist nur ein Ausdruck dessen, was in vielen Gemeinschaften und Gemeinden Lateinamerikas seit langem lebt und immer wieder gefeiert wird. Nehmen wir als Beispiel das Kreuzfest, das durchwegs einen sehr hohen Stellenwert hat und bisweilen gar Ostern und Weihnachten vom ersten Platz verdrängt. Dieses, am 3. Mai begangene Hochfest, beinhaltet in den Anden (Bolivien, Peru, Ecuador) trotz der deutlich katholischen Grundausrichtung auch viele Elemente aus der ursprünglichen Ketschua- und Aymara-Kultur. Selbst das Symbol des „Kreuzes“ war den Einheimischen schon lange vor der Ankunft der Eroberer bekannt. Im Sternbild des „Kreuzes des Südens“ war es gleichsam unverrückbar an den Himmel geheftet. Für die Indio-Seele ist es eine „chakana“, eine kosmische Brücke oder ein Übergang zwischen grundsätzlich unterschiedlichen (und vom abendländischen Geist oft getrennten) Bereichen, Epochen und Systemen.

Bei jedem Dorf oder Stadtviertel in den Anden findet man auf dem „Hausberg“ ein grosses grünes Kreuz, ohne Corpus, wohl aber „bekleidet“ mit Tüchern und Blumen. Es verbindet Himmel und Erde, Mensch und Gott, Mann und Frau, Links und Rechts. Es steht auch als „Beschützer“ von Mensch und Vieh sowie als Lebensspender für „Mutter Erde“ (Pachamama).

Berge

Die Berggipfel hatten im indianischen Denken schon vor der Christianisierung die Funktion einer solchen Chakana. Sie sind als (männliche) Apu`s oder Berggottheiten dafür verantwortlich, dass die Erde befruchtet und Menschen und Tiere beschützt werden. Das christliche Kreuz hat ihren Ort und ihre Funktion eingenommen, genauso wie viele Kolonialkirchen auf den Fundamenten alter Inka-Heiligtümer gebaut wurden.
Jesus Christus wird als Apu Taytayku („unser göttliches Väterchen“) angerufen und verehrt. Im Symbol des (grünen) Gipfelkreuzes symbolisiert er die Verbindung von Himmel (eigentlich: „obere Region“) und Erde („diese Region“), also von Göttlichem und Menschlichem. Die Figur des Gottmenschen als Vermittler passt ausgezeichnet in das indianische Weltbild der Anden.

Einheit statt Gegensätze

Die verschiedenen indigenen Traditionen Lateinamerikas haben auf ihre je eigene Art und Weise versucht, den christlichen Grundgedanken mit ihrer Weltanschauung in Übereinstimmung zu bringen. Das kreative Zusammenwachsen (Syn-Kretismus) von christlichem Glauben und einheimischer Kultur hat zu Synthesen geführt, die von den Betroffenen als Einheit, von uns aber oft als Widersprüche oder Gegensätze wahrgenommen werden.

Die indianischen Theologien versuchen, den gelebten Glauben der indigenen Völker von Abya Yala (so der eigentliche Name für Lateinamerika) zu reflektieren. Seit 1990 finden kontinentale Treffen der unterschiedlichen Strömungen und Regionen (Zentralamerika, Andengebiet, Amazonas usw.) statt. Das vierte stand im Mai dieses Jahres in Paraguay unter dem Thema „Eine Erde ohne Übel“. Das Missionswissenschaftliche Institut von Missio Aachen unterstützt diese Initiativen tatkräftig.

Josef Estermann,
Direktor des Missionswissenschaftlichen Instituts von Missio Aachen

 

ite2002/04

Lateinamerika

ite 2002/4

Als Gast bei den Indios
Pachamama und _Apu Taytayku
Die Bibel der Unterdrückten